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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Voraussetzungen und Erfahrungen mitbringen als die Völker im Westen Europas oder in Amerika. Wir haben seit Jahrhunderten schon, auch wenn uns dies bisweilen nicht bewußt war, eine Brückenfunktion zwischen dem – durchaus auch asiatisch beeinflußten – russischen Raum und Europa, ähnlich wie die deutschsprechenden Österreicher für die Ungarn und für die Völker des Balkans. Auch die Finnen, die Balten, die Polen, die polnischen und galizischen Juden, die Tschechen und Slowaken haben von dieser Brückenfunktion der Deutschen und Österreicher vielfach profitiert; sie haben ihrerseits viel zum gegenseitigen Austausch beigetragen.

    Es ist notwendig, die Brücken zu erneuern und »zum Tragen« zu bringen. Die Russen hatten immer schon Schwierigkeiten – und werden sie auch in Zukunft haben –, den Westen zu verstehen; der Westen hat immer Schwierigkeiten, Rußland und russische Politik zu verstehen – die Deutschen aber können Verständnis vermitteln. Sie haben es in ihrer Geschichte oft getan. In diesem Bewußtsein fuhr ich 1974 zum dritten Mal in meinem Leben nach Moskau, um mit dem mächtigsten Mann des sowjetischen Riesenreiches zu sprechen.
    Für die sowjetische Staatsführung war ich der dritte deutsche Bundeskanzler, der nach Moskau kam. Im September 1955 war Konrad Adenauer dort gewesen und hatte – gegen den Rat seines Außenministers von Brentano – in realistischer Einschätzung der deutschen Lage diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufgenommen. Das war der Beginn, der Auftakt zu einem langwierigen Prozeß, den durch Hitlers Krieg entstandenen Tatsachen Rechnung zu tragen. Adenauer erreichte es, daß Moskau die letzten zehntausend deutschen Kriegsgefangenen, die zehn Jahre nach Kriegsende immer noch in der Sowjetunion festgehalten wurden, nach Hause entließ. In Deutschland hatte man an weit höhere Zahlen geglaubt und mußte sich nun damit abfinden, daß Hunderttausende von Vermißten entweder gefallen oder in der Gefangenschaft umgekommen waren. Immerhin hatte die sowjetische Führung mit der Freilassung eine Geste an die deutsche Adresse gemacht; ein Ruhmesblatt war es nicht. Die deutsche Führung aber verweigerte sich auch weiterhin der Erkenntnis, daß die auf der Potsdamer Konferenz besiegelte Teilung Deutschlands ein Faktum war, um das man nicht herumkam.
    So galt nach wie vor die Hallstein-Doktrin, jene Doktrin, nach welcher allein die Regierung der Bundesrepublik ganz Deutschland vertrat und Bonn daher keine diplomatischen Beziehungen zu Staaten haben durfte, die ihrerseits die DDR als Staat und Völkerrechtssubjekt anerkannt hatten. Beziehungen zur DDR selbst waren danach natürlich undenkbar. Kleine Reste dieser Doktrin überlebten bis heute, vor allem in der Vorstellungswelt vieler Politiker der CDU/CSU und auch einiger FDP-Leute. Ein Überbleibsel jener
Zeit ist auch die immer noch bestehende Titulatur unserer Bevollmächtigten Vertreter bei der anderen deutschen Regierung: Sie dürfen nicht Botschafter heißen, weil dieser Titel – so wird argumentiert – diplomatische Beziehungen signalisiere, diese jedoch nur zu ausländischen Staaten, nicht aber zur Deutschen Demokratischen Republik bestehen könnten.
    Obwohl dies pseudojuristische Formalargumente sind, welche die DDR-Führung ärgern, habe auch ich in den acht Jahren meiner Kanzlerschaft diese protokollarische Besonderheit nicht beseitigt. Zum einen wollte ich unnötigen Streit mit Teilen des Koalitionspartners FDP vermeiden, zum anderen aber und hauptsächlich, um die Beziehungen zur DDR weiterhin vom Bundeskanzleramt aus behandeln zu können. Ich wollte sie nicht in die Hände des taktisch begabten, aber stark juristisch orientierten Außenministers Genscher geraten lassen. Daneben waren es auch Opportunitätserwägungen gegenüber meinem Freunde Egon Franke, daß ich – auf Rat Herbert Wehners – sein praktisch unbedeutend gewordenes Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen weiterhin bestehen ließ.
    Im Grunde aber spielte die Hallstein-Doktrin in meiner Amtszeit keine hemmende Rolle mehr bei der Verfolgung unserer Interessen in östlichen Richtungen. Dies verdankten wir vor allem Willy Brandt, seinem Außenminister Walter Scheel sowie Egon Bahr.
    Brandt war der zweite Bundeskanzler, der Moskau besuchte. Seine Begegnung mit Breschnew im August 1970, getragen von dem Willen, »endlich über das Gerede hinweg[zu]kommen und entschlossen einen neuen Anfang [zu] setzen«, markierte den Durchbruch. Sein

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