Menschen und Maechte
Gewaltverzichtvertrag mit Moskau legitimierte zwar nicht die nach dem Krieg im östlichen Teil Europas entstandenen Grenzen – dies taten auch die anschließenden Gewaltverzichtverträge mit Warschau und Prag und der Grundlagenvertrag mit der DDR nicht –, aber er enthielt das Versprechen, sie nicht zu verletzen. Dies war die Grundlage für eine veränderte Haltung Moskaus gegenüber Bonn.
Aber auch für eine veränderte Haltung gegenüber dem Westen. Brandts Besuch im August 1970 steht am Anfang jener »Öffnungspolitik«
Moskaus, die wenig später durch die Begegnungen mit Nixon, Mitte Mai 1972 in Moskau und Mitte Juni 1973 in Washington, sowie durch das SALT-I-Abkommen und den ABM-Vertrag gekennzeichnet wurde und die 1975 schließlich durch die Helsinki-Konferenz und die Helsinki-Schlußakte gekrönt werden sollte.
Vielen Beobachtern im Westen blieben die Motive der sowjetischen Öffnungs- und Entspannungspolitik unklar. Ich zweifelte nicht an Breschnews Sorge über die Möglichkeit eines Krieges; seine Friedensliebe war unverkennbar. Daneben stand aber das ebenso offenkundige sowjetische Verlangen, das im Zweiten Weltkrieg und in den fünfundzwanzig Jahren danach gewonnene Imperium mitsamt der Oberhoheit über den östlichen Teil Mitteleuropas zu konsolidieren und seine Anerkennung durch den Westen zu erreichen. Moskau suchte die Aufteilung der Welt in sowjetische und amerikanische Einflußsphären unter Aussparung weiter Teile der Dritten Welt zu stabilisieren; dort würde man später den Wettbewerb mit den USA aufnehmen können. Die neue Öffnungspolitik des Kreml hat dieses sowjetische Ziel der Konsolidierung des eigenen Besitzstandes für den damaligen Zeitraum wahrscheinlich ideal erfüllt.
Ebenso wichtig war vermutlich ein drittes Motiv. Moskau wollte die inzwischen tatsächlich erreichte globalstrategische Parität mit den USA vor der Weltöffentlichkeit offiziell durch Washington bescheinigt wissen. Das war zugleich ein großrussisch-innenpolitisches Motiv, sicherlich auch notwendig, um Übereinstimmung im Politbüro herzustellen. Viertens mag bei den für die sowjetische Wirtschaft verantwortlichen Politbüromitgliedern – Kossygin an der Spitze – eine Rolle gespielt haben, daß ein Arrangement mit dem Westen der Sowjetunion eine Atempause verschaffte, in der sie die zivilen Teile der Volkswirtschaft, die durch den forcierten Rüstungsausbau offenkundig überstrapaziert waren, entfalten konnte. Dieses ökonomische Motiv ist später unter Gorbatschow stark ins Bewußtsein getreten.
Ob diese vier Motive oder auch nur eines davon von den Ideologen um Suslow und von den Militärs geteilt oder gebilligt wurde, blieb mir in den frühen siebziger Jahren unklar. Schwer abzuschätzen
war auch, ob und in welchem Maße die unverkennbar zunehmende Irritation über den unabhängigen, nukleare Aufrüstung einschließenden Kurs Mao Zedongs eine ausschlaggebende Rolle bei der Entspannungspolitik gegenüber den USA spielte. Wie auch immer die sowjetischen Motive im Politbüro ineinander verzahnt sein mochten: Bundeskanzler Brandt hatte die darin für Bonn liegende Chance erkannt und – gemeinsam mit Breschnew – einen brauchbaren Rahmen für das zukünftige deutsch-sowjetische Verhältnis gezimmert. Seinem Nachfolger oblag es, diesen Rahmen in jahrelanger Kleinarbeit konkret auszufüllen.
Auf westlicher Seite war die bevorstehende Entspannungspolitik durch den Beschluß des Ministerrats des Nordatlantikpaktes über die Empfehlungen des »Harmel-Berichts« bereits im Dezember 1967 in allgemeiner Form ins Auge gefaßt worden; wir Deutschen hatten daran tatkräftig mitgewirkt. Auf sowjetischer Seite war Leonid Breschnew die treibende Kraft gewesen; Nixon, Pompidou und Brandt waren dabei seine wichtigsten Partner. Jetzt waren alle drei innerhalb weniger Monate von der Weltbühne abgetreten – Brandt noch dazu anläßlich der Aufdeckung eines töricht-provokatorischen Spionageunternehmens aus Ost-Berlin.
Breschnew mußte dieser Verlust seiner wichtigsten Partner beunruhigen, zumal er im Politbüro von Zeit zu Zeit Schwierigkeiten hatte, einzelne Schritte seiner Politik voranzutreiben. Breschnews Prestige stand auf dem Spiel. So war er entschlossen, den Besuch des neuen deutschen Bundeskanzlers zu einem Erfolg zu machen. Obgleich ich dasselbe Ziel hatte, sollten die Verhandlungen doch schwierig werden; das zeigte sich schon am ersten Tage.
Erster Besuch bei Breschnew
Es war ein besonders aufwendiger »großer
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