Menschen und Maechte
die USA, aber auch durch Europa, von sowjetischem Druck entlastet werden. Der Westen weiß umgekehrt die Bindung sowjetischer Kräfte durch China zu schätzen. Nixon war der erste, der daraus strategische Konsequenzen zog und die zwanzigjährige amerikanische Feindseligkeit gegenüber der Volksrepublik China beendete.
Inzwischen erscheint der Aufstieg des zweiten kommunistischen Großreichs zur Weltmacht unaufhaltsam, auch wenn er sich nur sehr langsam vollzieht. Daraus kann sich ein Machtdreieck entwickeln, eine Konstellation von möglicherweise größerer Stabilität als das bipolare Weltsystem der letzten vier Jahrzehnte. Zu den wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang gehört: Wie wird sich Asien entwickeln? Wie insbesondere Südostasien, wie der Ferne Osten? Welche Rolle wird China in dieser Weltregion spielen? Welche Rolle kommt Japan zu? Welche Einflüsse gehen von Moskau und von Washington auf die asiatisch-pazifische Großregion aus?
Die Frage nach einem stabilen Machtdreieck steht im Schatten tiefer Unsicherheit hinsichtlich der wirklichen inneren und äußeren Lage Chinas. Die Amerikaner, die Europäer und die Russen
haben eine gleich unzureichende Kenntnis Chinas und seiner inneren Entwicklungstendenzen. Wird China wirtschaftlich Erfolg haben? Werden endlich doch Stetigkeit und Verläßlichkeit an die Stelle immer neuer revolutionärer, voluntaristischer oder emotionaler Kampagnen treten? Diese Frage nach der inneren und nach der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas war für mich ebenso wichtig wie für meine chinesischen Gesprächspartner die Frage nach der weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und nach der Einheit Europas.
Schon seit ich 1969 Verteidigungsminister geworden war, hatten mich diese Fragen stets beschäftigt. 1971 hatte ich bei Willy Brandt auf diplomatische Beziehungen zwischen Bonn und Beijing gedrängt; im Herbst 1972, lange bevor die USA diesen Schritt taten, wurden sie aufgenommen. Nach meiner Ernennung zum Bundeskanzler lud mich Zhou Enlai zum Besuch Chinas ein; als der Besuch im Herbst 1975 zustande kam, war Zhou aber schon schwer krank, und ich habe ihn nicht mehr sehen können. Seine Stelle als Gastgeber hat der stellvertretende Ministerpräsident Deng Xiaoping übernommen.
Deng Xiaoping erwartete mich auf dem Flughafen mit einer militärischen Ehrenformation und den obligaten Heerscharen bunt angezogener, fröhlich rufender Kinder, die schwarzrotgoldene Fähnchen schwangen. Die Mädchen trugen große papierne Schleifen, Blüten, ganze Blumensträuße, andere hatten buntes Gesteck im Haar – die Überbleibsel alter chinesischer Traditionen.
Über Deng Xiaoping schrieb damals der »Kölner Stadtanzeiger«: »Man traut Deng zu, daß er einem unkonzentriert von der Sache abschweifenden Verhandlungspartner auch mal gehörig in die Parade fährt. Der Kanzler muß diesen unscheinbar wirkenden, mächtigen Siebziger eigentlich mögen.« Das stimmte. Ich mochte Deng Xiaoping von Anfang an.
Beijing bot zunächst einen unerwartet »unchinesischen« Eindruck. Eine große, enorm breite Straße von Ost nach West, die Tschangan, war offenbar erst in den Nachkriegsjahren durch das alte Peking gebrochen worden; sie teilt die Stadt in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Im Zentrum der Stadt liegt die einstige
»Verbotene Stadt«; dieser Komplex kaiserlicher Gärten, Hallen und Paläste liegt unmittelbar nördlich der Straße; gegenüber befindet sich der weite Tien-An-Men-Platz, der »Platz des himmlischen Friedens«, der nur locker von der »Großen Halle des Volkes« an seiner Westflanke und einem Museumsgebäude an der Ostflanke zusammengefaßt wird.
Die eher stalinistisch wirkenden gewaltigen Gebäude der Ministerien und anderer Verwaltungsinstanzen, die nur andeutungsweise traditionelle chinesische Stilelemente aufweisen, sind ebenso trostlos wie viele Nachkriegsbauten in anderen Hauptstädten kommunistischer Staaten. Aber die unvorstellbar große Zahl von Menschen auf der Straße, Hunderttausende von abends unbeleuchteten Fahrrädern im dichten Berufsverkehr, dazu die Weiden und Platanen an den Straßenrändern und die unzähligen Blumentöpfe auf den Balkons der Mietskasernen, dies alles machte das Bild lebendig und anheimelnd – trotz seiner Fremdheit. Fast alle trugen den ziemlich häßlichen blauen oder grauen Einheitsanzug, aber sie hatten nicht so verschlossene und abweisende Gesichter wie die Menschen in Moskau.
Nach wenigen Stunden bemerkten wir, daß es
Weitere Kostenlose Bücher