Menschen und Maechte
Vereinigten Staaten muß die Einsicht wachsen, daß auch die Regierungen der mit ihnen verbündeten Staaten in der
Verfolgung ihrer Interessen von Zeit zu Zeit Erfolge benötigen, die sie zu Hause vorzeigen können. Eines stetigen Austauschs mit den Amerikanern und des ständigen Versuchs der Einflußnahme auf Washington bedarf es auch deshalb, damit wir Europäer vor einseitigen Überraschungen durch Washington sicher sein können.
Ein positives Beispiel für die Fähigkeit, sich in die Interessenlage des andern zu versetzen, erlebte ich bei Reagans Besuch in Bonn. Seine bereits erwähnte Rede vor dem Bundestag vom 9. Juni 1982 war ein politisches und psychologisches Meisterstück. Er erreichte, was keinem deutschen Bundeskanzler jemals gelungen ist: den stehenden, langanhaltenden Beifall sowohl der Linken als auch der Rechten für eine außen- und sicherheitspolitische Rede (nur zwei fraktionslose Irrgänger schlossen sich aus). Wenngleich es bis zu dieser Stunde im Bundestag erhebliche Skepsis gegenüber Reagan gegeben hatte – und keineswegs nur auf der Linken –, so gelang es ihm durch eine gut halbstündige Rede, den Bundestag zu überzeugen, dessen damals drei Fraktionen ihn wohl zwanzigmal durch gemeinsamen Beifall unterbrachen.
Wer immer diese geschickt auf deutsche Geschichte, deutsche Mentalität und deutsche Friedenssehnsucht eingehende Rede konzipiert und daran mitgearbeitet hat, er konnte befriedigt feststellen, wie zum ersten Mal seit Kennedys berühmter Berliner Rede neunzehn Jahre zuvor (»Ich bin ein Berliner«) ein amerikanischer Präsident die Zustimmung einer sehr großen Mehrheit aller Deutschen fand. Das Echo der Zeitungen bestätigte einhellig diesen Triumph; Hilde Purwin brachte ihn in der »Neuen Ruhr Zeitung« mit Recht auf die knappe Formel: »Reagan überzeugte.« Eine nach Hunderttausenden zählende Anti-Reagan-Demonstration, die gleichzeitig wenige Kilometer entfernt auf dem anderen Rheinufer stattfand, konnte daran nichts ändern.
Gewiß: der Alltag europäisch-amerikanischer Divergenzen trat sehr bald erneut zutage, ebenso der Dilettantismus in Reagans weltpolitischen Vorstellungen. Aber er hatte uns Deutsche eben doch die grundsätzliche Entschiedenheit der amerikanischen Nation neu erleben lassen, für die Freiheit und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins einzutreten. Er
hatte – wie viele amerikanische Führer vor ihm und wie gewiß viele Amerikaner, die nach ihm kommen werden – ein weiteres Mal jene Großzügigkeit der amerikanischen Nation spüren lassen, die auch mich immer wieder fasziniert.
Die Amerikaner stammen zumeist von Vorfahren ab, die Europa verließen, weil sie hier in Unterdrückung oder in Armut gelebt hatten. Insofern hatte de Gaulle recht, als er die USA einmal eine »Tochter Europas« nannte. Der Entschluß zur Auswanderung war auch ein Akt der Selbstbefreiung von den bedrückenden europäischen Verhältnissen gewesen, er hatte großen Mut und großes Selbstvertrauen erfordert. Freiheitswille, Mut, Selbstvertrauen, Leistungswille und gegenseitige Hilfsbereitschaft, aber auch ein gewisser Hang zur Verachtung Europas und eine gelegentliche Neigung zur Selbstjustiz zwecks Selbstverteidigung sind auf Grund dieser überindividuellen Erfahrungen zu Elementen der politischen Kultur Amerikas geworden, die von einer idealistischen und zugleich optimistischen Grundhaltung geprägt ist.
Auf dem Felde der Außenpolitik hat dieser Idealismus die Europäer häufig als unrealistisch erschreckt; aber im Zusammenspiel mit der unvergleichlichen amerikanischen Hilfsbereitschaft hat er der Welt ungeheure Dienste geleistet. Das reichte von ihrem Beitrag zum Kampf gegen das Deutschland Hitlers über die private Hilfsaktion der Care-Pakete bis zur GARIOA-Hilfe und zum Marshallplan. Diese humanitären Hilfsaktionen kamen auch und gerade den eben erst besiegten Kriegsgegnern, nämlich den Deutschen und den Japanern, zugute. Kein anderes Volk der Welt hätte dies fertiggebracht! Wenn an ihre Hilfsbereitschaft appelliert wird, sind die Amerikaner die großzügigste Nation der Welt.
Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft bekam ich, abgerissen und auf zerrissenen Schuhen laufend, meine ersten brauchbaren Stiefel von amerikanischen Quäkern geschenkt; ich werde das nicht vergessen. Ich werde auch die Luftbrücke für Berlin nicht vergessen, nicht Leonard Bernsteins erste Konzerte in Deutschland kurz nach Kriegsende, nicht die Hilfsbereitschaft
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