Menschen und Maechte
meiner Verwandten in Minnesota und nicht die Gastfreundschaft von ungezählten namenlosen Amerikanern im ganzen Lande.
Gewiß werden die Amerikaner immer auch ihren eigenen Interessen dienen – wie denn auch anders. Gleichwohl müssen sie unsere Zuneigung spüren; sie bedürfen gerade dann erkennbarer emotionaler Zuwendung, wenn wir Europäer unsere Interessen ihnen gegenüber mit Festigkeit vertreten. Aber diese Festigkeit ist nötig. Nur durch sie entsteht Respekt. Und nur im gegenseitigen Respekt können wir zwischen abweichenden Auffassungen und Interessen tragfähige Kompromisse finden.
Es ist wahr: Amerikas Außenpolitik ist genauso fehlbar wie die der europäischen Demokratien. Ebenso wahr ist: Amerikas Außenpolitik kann genauso rücksichtslos sein, wie es jahrhundertelang die Außenpolitik der europäischen Staaten gewesen ist. Trotzdem bleiben meine Bewunderung für die Vitalität der Amerikaner und meine Zuneigung unvermindert. Wenn ich jemals in ein fremdes Land gehen müßte, so ginge ich in die USA.
Aber dieser Fall wird nicht eintreten, weil die USA uns, den europäischen Demokratien, beistehen werden. Weil sie moralisch zu den Pflichten stehen werden, die sie übernommen haben – so wie es in jenem schönen Vers von Robert Frost heißt:
The woods are lovely, dark and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.
China – die dritte Weltmacht
Im Oktober 1975 war ich als Bundeskanzler zu einem ersten offiziellen Besuch in der Volksrepublik China gewesen. Damals hatte mir Mao Zedong lapidar gesagt: »Ich weiß, wie sich die Sowjetunion entwickeln wird: Es wird Krieg geben.« Ich hatte widersprochen; zwar wollte ich die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges nicht ausschließen, bei ausreichender Verteidigungsfähigkeit des Westens aber hielt ich ihn für unwahrscheinlich. Mao war jedoch bei seiner These von der Unvermeidlichkeit des Krieges geblieben, und der damalige stellvertretende Ministerpräsident Deng Xiaoping hatte ihm zugestimmt.
Vier Jahre später, im Oktober 1979, war Hua Guofeng, der Nachfolger Mao Zedongs und Zhou Enlais, nach Bonn gekommen und hatte der Prophezeiung etwas nuancierter hinzugefügt: »China bemüht sich darum, den nächsten Krieg so lange wie möglich hinauszuschieben.«
Fast ein Jahrzehnt nach meinem Besuch bei Mao, im September und Oktober 1984, war ich ein zweites Mal in China. Diesmal eröffnete Deng Xiaoping das Gespräch mit der Erinnerung an unsere Jahre zurückliegende Unterhaltung. Überraschenderweise sagte er plötzlich sehr freimütig: »Sie haben unserer Einschätzung der Lage damals widersprochen; Sie haben recht gehabt.«
Hatte ich wirklich recht gehabt? Gewiß hat die Geschichte dieses Jahrzehnts mir nach außen hin recht gegeben. Aber werde ich mit meiner damaligen These von der Vermeidbarkeit eines dritten Weltkrieges auch in Zukunft recht behalten? Was müssen wir tun – in Beijing, in Washington, in Moskau und in Europa – und was müssen wir unterlassen, um einen Weltkrieg zu verhindern? Welche Schlußfolgerungen müssen wir aus der Analyse der Weltlage ziehen, wenn wir den Frieden nicht nur erhalten, sondern stabilisieren wollen?
Dies sind Fragen, die immer wieder zwischen Europäern und Chinesen erörtert werden; anders als zur Zeit Maos sprechen die Chinesen darüber heutzutage weit pragmatischer und weniger dogmatisch. Es gab und gibt keine ungeklärten bilateralen Probleme zwischen Beijing und Bonn; vielmehr hat sich auf manchen Gebieten inzwischen eine erfolgreiche Kooperation entwickelt. Der politische Meinungsaustausch galt und gilt daher nie bilateralen Interessenkonflikten, vielmehr immer wieder der Frage: Was wird die Sowjetunion tun? Wie stark ist sie? Was glaubt Moskau sich leisten zu können? Sind die USA und ist Europa fähig, ein ausreichendes Gegengewicht darzustellen?
Abb 40 Beijing, 28. Oktober 1975: Deng und Schmidt beim Abschreiten der militärischen Ehrenformation auf dem Flughafen. Es war der erste offizielle Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in der Volksrepublik China.
China hat – beunruhigt durch starke sowjetische Streitkräfte entlang der gemeinsamen Grenzen – ein ausgeprägtes Interesse an einem starken Europa, und das wird durchaus nicht verhehlt, vielmehr ganz offen ausgesprochen. Europa wiederum hat auf Grund der sowjetischen Bedrohung Europas Interesse am chinesischen Widerlager. Beijing seinerseits möchte durch den Westen, besonders durch
Weitere Kostenlose Bücher