Menschen und Maechte
trotz des uniformen Anzugs doch erkennbare Rangunterschiede gab. So trug zum Beispiel Mao Zedong einen mittelgrauen Anzug aus einem feinen Wolle-Seide-Gemisch, und auch die höheren Funktionäre hatten Monturen aus besseren Stoffen, mitunter offenbar maßgeschneidert. Die Armeeuniformen trugen damals zwar keinerlei Rangabzeichen, aber der Offizierrang war an dem aus einer aufgenähten Brusttasche herausragenden Kugelschreiber erkennbar, der obligat zu sein schien. Die Einheitskleidung der Frauen auf den Straßen und in den Büros oder Fabriken stach davon ganz und gar ab. Fast ausnahmslos trugen die Frauen und Mädchen plumpe blaue Baumwollanzüge, dazu derbe Schuhe. Lippenstifte und Dauerwellen waren offenbar ebenso verpönt wie jede Form von Make-up. Für bessergestellte Frauen muß es aber durchaus Lippenstifte gegeben haben, denn meine Frau fand in ihrem Gästezimmer eine Kollektion von gut zwei Dutzend in allen denkbaren Farbtönen vor, dazu vielerlei Fläschchen mit Parfüm und Duftwässerchen, alles offenbar chinesischer Herkunft. Oder handelte es sich doch um Importe aus Hongkong?
Zhou Enlai hatte Schmidt nach China eingeladen; als der Besuch zustande kam, war Zhou bereits schwer krank, so daß er den Gast nicht mehr persönlich empfangen konnte. Das Essen in der Deutschen Botschaft wurde zu Ehren Zhous gegeben.
Abb 7 Nach der Aufführung der »revolutionären« Beijing-Oper»Der Azaleenberg« stellten sich Helmut und Loki Schmidt für ein Gruppenphoto; ganz rechts Bundesminister Kurt Gscheidle.
Abb 15 Typische Straßenszene in Beijing während des Chinabesuches im Herbst 1975.
Abb 20
Abb 41 Auf dem Besuchsprogramm standen ferner die Besichtigung der Chinesischen Mauer und der Besuch der ehemals »Verbotenen Stadt«.
In diesen Tagen sahen wir sicherlich Tausende von Frauen; alle trugen ihre Haare kurzgeschoren, nur die sehr jungen hatten sich gelegentlich einen Zopf geflochten. Beim Straßenbau und auf Baustellen verrichteten sie mit Hacke und Schaufel zum Teil schwerste Arbeiten. Als Transportmittel für Schutt, Sand, Zement und Steine dienten große Körbe aus Stroh- und Weidengeflecht, die auf der Schulter getragen wurden. Mir kam das Wort von den »blauen Ameisen« in den Sinn; in der Tat: bisweilen hatten wir den Eindruck von Ameisenstraßen.
Nachdem die offiziellen Gespräche abgeschlossen waren, hatten wir Gelegenheit, den Kaiserpalast genauer zu besichtigen: ein Ensemble aus vielen hallenartigen Gebäudekomplexen mit breiten Freitreppen, die von Fabeltieren flankiert werden. Die Mauern der großen Gebäude sind überwiegend in pompejanischem Rot gehalten; darüber breiten sich die geschwungenen, ausladenden Dächer aus sattgelben Ziegeln. Um intime Innenhöfe sind Hunderte von kleinen Häusern gruppiert; alles immer wieder aufgelockert durch Teiche, Brücken, Bäume und Gärten. Man zeigte uns zweitausend Jahre alte Tuschzeichnungen von der Hand chinesischer Kaiser, die aus klimatischen Gründen nur an wenigen Tagen im Herbst hervorgeholt werden dürfen. Die Blätter zeigen vielerlei Vögel, Finken, Goldfasane, vor allem aber blühende Pflaumen- und Kirschzweige, Teiche und Bäche; die kraftvoll abstrahierten Wellen und Ringe in den Gewässern erinnerten mich an deutsche Expressionisten. Die chinesische Bau- und Gartenkultur vergangener Jahrhunderte hinterläßt den Eindruck großen Gleichmaßes und heiterer Ausgewogenheit. Was für ein Glück, dachte ich, daß Madame Jiang Quing, die Frau Maos, in ihrem rasenden Zerstörungsdrang, dem schon so viele unschätzbare Denkmäler zum Opfer gefallen waren, den Kaiserpalast und das Tor des himmlischen Friedens bisher zumindest verschont hat.
Natürlich haben wir in jenen Tagen auch die Ming-Gräber und das gewaltige Bauwerk der chinesischen Mauer besucht. Die Fahrt ging durch eine karge herbstliche Landschaft. Der Aufstieg zur
Mauer war anstrengend gewesen, aber der Spaziergang auf der Krone der Mauer lohnte die Mühe. Der Blick war unvergleichlich: Den Hügeln und Tälern folgend, windet sich das grandiose Bauwerk durch die Landschaft, bis es sich irgendwo im nebligen Dunst der kulissenartigen Berge zu verlieren scheint. Ich fühlte mich an die chinesischen Tuschzeichnungen erinnert, auf denen sich die Berge in ähnlicher Weise voreinanderschieben. Der Anblick der Mauer übertraf alle meine Erwartungen; er steigerte meine Ehrerbietung vor der vier- oder fünftausend Jahre alten chinesischen Kultur. Jahre später, als ich die Tausende von
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