Menschen und Maechte
einem Krieg -vor allem die Dänen, die Holländer, die Belgier. Die Amerikaner sind im Grunde genauso. Vielleicht sind die Jugoslawen und die Deutschen etwas widerstandswilliger. Wenn Europa aber auch noch in den nächsten zehn Jahren unfähig bleibt, sich politisch, wirtschaftlich und militärisch zu vereinigen, dann wird es dafür zu zahlen haben. Die Europäer müssen lernen, sich auf sich selbst und nicht auf Amerika zu verlassen. Warum können die sechzig Millionen Westdeutschen nicht dasselbe erreichen wie die Nordvietnamesen?«
Ich ging auf diesen letzten Vergleich nicht ein, weil ich kein Gerücht darüber aufkommen lassen wollte, der große Vorsitzende und der deutsche Bundeskanzler hätten sich über die wahnwitzige Idee eines westdeutschen Angriffskrieges zum Zweck einer deutschen Wiedervereinigung unterhalten. Statt dessen sagte ich: »Unsere Armee gehört zu den am besten ausgebildeten und ausgerüsteten Streitkräften der Welt; das gilt auch für ihren Geist. Wir können uns im Falle der Not gut verteidigen. Was mich jedoch besonders interessiert, ist Ihr radikaler Meinungsumschwung. Was hat Ihr Urteil über die Sowjetunion so umgestoßen? Vor zwanzig Jahren haben Sie ganz anders gesprochen! Was für Erfahrungen haben Sie denn seitdem mit Moskau gemacht?«
»Es ist die Sowjetunion, die sich grundlegend verändert hat, nicht China. Die heutigen Männer im Kreml sind nicht mehr Männer wie Stalin. Wir haben es heute mit den Chruschtschows und Breschnews zu tun, und das sind alle Verräter an Lenins Sache.«
Aber er selbst habe doch die These von der ununterbrochenen Revolution vertreten, warf ich ein. Ob er es denn für gänzlich undenkbar halte, daß spätere Führungsgenerationen im Kreml zu Lenins Grundsätzen zurückfinden – etwa hinsichtlich der Behandlung anderer Staaten oder nationaler Minderheiten oder was den Primat der politischen Führung über die Bürokratie anlangt.
Mao, mich unvermutet noch einmal mit dem Feuer des alten Revolutionärs unterbrechend: »Nein, nein, nein! Alles das werden sie nicht tun!« Und auf die Frage, warum nicht: »Weil sie zuviel Macht besitzen, weil sie zu viele Nuklearwaffen besitzen.«
»Moskau«, so mein Einwand, »hat aber ebenso Furcht vor den Nuklearwaffen der anderen.« Worauf Mao entgegnete: »Sowohl als auch! Vor allem aber haben sie vier Millionen Soldaten!«
Wann immer im Gespräch die Sowjetunion erwähnt wurde, wurde das schwere Trauma deutlich, welches der »Verrat« der Sowjetunion Ende der fünfziger Jahre für Mao bedeutete. Das Mißtrauen gegenüber der Sowjetführung war offensichtlich elementar, es war geradezu ein konstitutiver Faktor seines Weltbildes. Das Bild der übrigen Welt wurde nur aus dieser Perspektive gezeichnet. Mao wollte – wie er es auch anderen westlichen Besuchern gegenüber schon versucht hatte – den Westen mißtrauisch machen und ihn zu einer starken Rüstungsanstrengung bewegen. Zehn Jahre später hätten Präsident Reagan und sein simplistischer Minister Weinberger ihre Freude an Maos antisowjetischen Holzschnitten gehabt.
Damals sah ich meine Aufgabe darin, Mao klarzumachen, daß er den deutschen Friedenswillen nicht mit Schwäche, Anpassung oder gar Unterwerfung unter Moskau verwechseln dürfe. Die Bundesrepublik suche Entspannung nur auf der Grundlage ungeschmälerter Sicherheit. Wir strebten nicht nach einer Zusammenarbeit zahlreicher schwacher europäischer Staaten mit einer überlegenen Sowjetunion, sondern nach Kooperation eines einigen, verteidigungsfähigen und eben deshalb auch politisch starken Europa mit einer unvermeidlicherweise gleichfalls starken Sowjetunion.
Mao schien die Entschiedenheit dieser Erklärung ernst zu nehmen. Abgesehen von der Bemerkung über den Vietnamkrieg unterließ er herabsetzende Bemerkungen über die Vereinigten Staaten; aber er machte deutlich, daß er die USA nicht für fähig hielt, allen ihren strategischen Aufgaben und ihren Bündnisverpflichtungen nachzukommen. Bald wandte sich das Gespräch erneut Europa zu. Mao wiederholte sein Diktum, Europa sei zu sehr zerfallen und zu schlapp.
Ich gab zu bedenken: »Die zahlreichen Nationen und Staaten Europas sind zum Teil mehr als eintausend Jahre alt. Sie alle haben eine eigenständige Geschichte, ihre eigene Kultur und Sprache. Die zwölf westeuropäischen Staaten heute, nach Jahrhunderten oft gegensätzlicher Entwicklung, unter ein gemeinsames Dach zu bringen, ist eine ungeheure Aufgabe. Sie wird mehrere Generationen
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