Menschen und Maechte
sich offenbar vorgenommen hatte: Wir einigten uns auf einen Meinungsaustausch über die Strategie der Sowjetunion und auf die richtige Strategie Moskau gegenüber. Ich entschloß mich zu einer breiteren Darstellung, um eine Reaktion zu provozieren: »Nach meinem Eindruck muß man unterscheiden zwischen dem, was die Sowjetführung sagt, und dem, was sie tatsächlich unternimmt. In den tatsächlichen Handlungen der äußeren Politik ist seit dem Ende der Chruschtschow-Ära und seit dem Abbruch des Raketenabenteuers auf Kuba viel mehr Vorsicht zu erkennen als in den propagandistischen Äußerungen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß die Sowjetunion aggressiv werden könnte, wenn man Situationen zuläßt, die zum Machtmißbrauch einladen. Wenn jemand in seiner Verteidigung schwach wird, könnten die Sowjets das ausnutzen. Solange wir ein hinreichendes Gleichgewicht der Macht ihnen gegenüber wahren, brauchen wir keine Furcht vor einer sowjetischen Abenteuerlust zu haben. Deshalb vermeiden die Staaten Westeuropas und auch die USA alles, was den Kreml zu Übergriffen einladen könnte. Wir haben die Warnungen der chinesischen Führer ernst genommen, aber wir fürchten die Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs nicht. Unsere gemeinsame Verteidigung ist stark genug, einen tatsächlichen sowjetischen Angriff oder eine Pression durch Drohungen zu einem beträchtlichen Risiko für Moskau zu machen.« Schön und gut, meinte Mao, aber die Lage werde sich ändern, in zehn oder zwanzig Jahren. »Hören Sie auf mich. Es wird Krieg mit der Sowjetunion geben. Ihre [das heißt die westliche] Abschreckungsstrategie ist bloß hypothetisch.« Ich widersprach: »Unsere Verteidigungsfähigkeit ist nicht hypothetisch. Unsere Abwehr ist sehr real und höchst wirksam. Aus dieser Sicherheit gewinnen wir unsere Handlungsfreiheit gegenüber der Sowjetunion; und darauf bauen wir die andere Hälfte unserer Strategie: nämlich zu guter Nachbarschaft und
sogar zu einer Zusammenarbeit mit Moskau und seinen Verbündeten zu gelangen.«
Er wisse das, entgegnete Mao, aber es werde trotzdem Krieg geben. »Mir scheint, Sie sind ein Kantianer. Aber Idealismus ist nichts Gutes! Ich selbst bin ein Schüler von Marx, ich habe viel von ihm gelernt. Ich halte nichts von Idealismus, ich interessiere mich für Hegel, für Feuerbach und für Haeckel. In bezug auf unser Thema hat Clausewitz recht gehabt.«
Diese Bemerkungen waren Anlaß für eine philosophische Abschweifung von zehn Minuten. Auf Ernst Haeckel und seine grob materialistischen»Welträtsel«, die ich vierzig Jahre zuvor im Bücherschrank meines Vaters gefunden und gelesen hatte, wollte ich nicht näher eingehen. Zu Hegel bemerkte ich nur soviel, daß er für manche deutsche Mystifizierung des Staates eine erhebliche Mitverantwortung trage. Natürlich flocht ich mein Bekenntnis zu Kant ein. Dann brachte ich das Gespräch auf Clausewitz: »Clausewitz war ein Genie, einer der wenigen deutschen Offiziere mit politischer Begabung. Marx, Engels und Lenin haben seinen berühmten Satz so interpretiert, als sei Krieg weiter nichts Ungewöhnliches, sondern bloß die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ich hingegen ziehe es vor, Clausewitz’ Satz als eine Lektion an die Militärs zu lesen, nämlich: Auch im Krieg gebührt der Primat der politischen Führung und nicht etwa – wie zum Beispiel Ludendorff gemeint hat – der militärischen. Daraus ziehe ich die Schlußfolgerung, daß Krieg nur eine von vielen alternativen Möglichkeiten ist, die der politischen Führung zur Verfügung stehen. Man darf niemals auf den Krieg als die einzige Möglichkeit starren.«
Mao spann den Gedanken weiter. Ein Verteidigungskrieg sei immer besser als ein Angriffskrieg, denn gewöhnlich erleide der Angreifer eine Niederlage. Wilhelm II. habe dies ebenso erfahren müssen wie Chiang Kaishek oder die Amerikaner nach ihrem Angriff auf Vietnam. »Sie haben 500 000 Mann nach Vietnam geschickt, davon sind 50000 gefallen und 100000 sind verwundet worden. Jetzt machen sie ein großes Geschrei darüber. Amerika hat zuviel Angst davor, Leute zu verlieren.«
»Wie denken Sie über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den USA, der Sowjetunion und der Volksrepublik China?« fragte ich. »Es wird Krieg geben«, antwortete Mao, der geradezu besessen von dieser Vorstellung schien. »Eine ewige friedliche Koexistenz ist undenkbar. Vor allem Europa ist zu weich. Es ist uneinig und hat außerdem tödliche Angst vor
Weitere Kostenlose Bücher