Menschen und Maechte
es noch keine Einigung. Die Sowjetunion erstrebt ein Abkommen über Prinzipien oder einen Nichtangriffspakt. China dagegen will alle zwischen beiden Staaten offenen Fragen lösen und die Hindernisse der Normalisierung beseitigen. Dies scheint der Sowjetunion schwerzufallen. Es kann ein Verhandlungsmarathon werden; allein die Verhandlungen über die Grenzfragen dauern schon zehn Jahre.«
Und auf meine Zwischenfrage hin: »Es geht besonders um die Grenzlinien im Nordosten. Rußland hat uns insgesamt 1,6 Millionen Quadratkilometer Land weggenommen. Obwohl Lenin erklärt hat, sie wollten alle ungleichen Verträge aufheben und diese Territorien zurückgeben, hat China diese Frage gar nicht aufgeworfen. Derzeit geht es nur um einige kleine umstrittene Grenzgebiete; Zhou Enlai und Kossygin hatten darüber schon eine Einigung erzielt, aber nach Moskau zurückgekehrt, hat Kossygin seine Meinung geändert. Heute ist die Sowjetunion nicht bereit anzuerkennen, daß es überhaupt umstrittene Gebiete gibt.«
Ich fragte nach der Bedeutung der sowjetischen Truppen entlang der Grenze. Diese Truppenmassierung, so Hua Guofeng, sei ein unfreundlicher Akt. Insgesamt handle es sich um 45 Divisionen; auch in der mongolischen Volksrepublik stünden sowjetische Truppen – zu Chruschtschows Zeit habe es das nicht gegeben. »Es sind drei Typen von Divisionen: Der erste ist zu 70 bis 80 Prozent aufgefüllt, jeweils etwa 10 000 Mann; die anderen beiden Typen umfassen etwa 6000 bis 7000 beziehungsweise etwa 4000 Mann. Die sowjetischen Panzer und Flugzeuge sind besser als die unsrigen. Es könnte im Kriegsfall so sein, daß die Sowjetunion tief in unser Land eindringt und viele Menschen tötet. Aber China ist
geographisch ganz anders gestaltet als Europa; wir haben genügend Raum und viele Menschen – und die Sowjetunion hat sehr lange Transportwege.«
Die Unterhaltung kam an diesem Punkt auf das Thema eines sowjetischen Zweifrontenkrieges zurück. Ich unterstrich abermals meine beiden strategischen Prinzipien gegenüber Moskau: sowohl Sicherheit, möglichst durch west-östliches Rüstungsgleichgewicht, als auch Entspannung durch Kooperation, auch Kooperation in der vertraglichen Rüstungsbegrenzung, und ich stellte fest: »Sie treffen in Paris, in London und in Rom gewiß auf eine ähnliche Haltung. Ich selbst habe auf Grund meiner eigenen Lebenserfahrung Angst vor einem Kriege. Aber ich habe keinen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Sowjetunion. Breschnew hat es von mir mehrere Male gehört: Wir Deutschen werden uns bemühen, zur Bewahrung des militärischen Gleichgewichtes beizutragen.«
»Ich glaube«, erwiderte daraufhin Hua Guofeng, »in einem Kriege würden die deutschen Streitkräfte die kampfstärksten sein. So sehen es meiner Meinung nach auch die Sowjets. Vor den Deutschen haben sie am meisten Angst. Deshalb werden sie sich mit allen Mitteln einer Wiederherstellung der Einheit Deutschlands widersetzen … Wenn einige Leute heute schreiben, die Sowjetunion könnte unter der Voraussetzung der Neutralisierung Deutschlands einer Wiedervereinigung zustimmen, so halte ich das für unrealistisch …«
»Deshalb«, fuhr er fort, »legen wir Wert auf eine langfristige Entwicklung unserer Beziehungen zur Bundesrepublik. Auch wenn sie stark sein wird, so wird sie doch nie China angreifen – und China wird nie hegemoniale Tendenzen verfolgen und die Bundesrepublik angreifen. Wir denken an eine weitgespannte Perspektive. Wir möchten von Ihrer fortgeschrittenen Technologie lernen, dafür haben wir Ihnen Rohstoffe und spezifische Produkte zu bieten …« Hua betonte, daß China volles Verständnis habe für die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, denn sein Land wünsche die Entspannung. Man könne jedoch nicht fordern, daß jeder die gleiche Sprache spreche.
Wir verabschiedeten uns weit nach Mitternacht. Es war ein Gespräch gewesen, in dem sich eine höhere Reife und Differenzierung des chinesischen strategischen Denkens offenbarte. Der Gast hatte sich mustergültig verhalten: offen und freimütig im internen Gespräch, zugleich taktvoll und einfühlsam im öffentlichen Auftreten. In Moskau und in Ost-Berlin argwöhnten damals einige Kreise, es bahne sich ein westdeutsch-chinesisches Zusammenspiel an, das gegen sie gerichtet sei. So wußte das »Neue Deutschland« unter der Überschrift »Spiel mit dem Feuer« von angeblichen Äußerungen Hua Guofengs zu berichten, denen zufolge »China die
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