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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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vorgetragen.
    Anschließend nimmt Deng, in einem Wagen stehend, dessen Dach geöffnet oder ausgeschnitten ist, die Meldung des Kommandierenden Generals entgegen. Danach fährt er die Front der in der Tschangan aufmarschierten Bataillone ab; er grüßt jedesmal durch Zuruf und empfängt donnernde Antworten. Als er auf das Tor des Himmlischen Friedens zurückgekehrt ist, beginnt die Parade, die kein Militär in der ganzen Welt exakter hätte vorführen können.

    Gezeigt werden an diesem 1. Oktober 1984 in Beijing nach den Panzern und der Panzerartillerie vor allem Raketen: Luftverteidigungsraketen; eine wohl noch im Erprobungsstadium befindliche U-Boot-gestützte strategische Nuklearrakete (CSS-NX 4); eine ältere, schon Anfang der siebziger Jahre eingeführte Mittelstreckenrakete von etwa zweitausend Kilometer Reichweite (CSS-2); eine etwas neuere Rakete von etwa sechstausend Kilometer Reichweite (CSS-3) sowie am Schluß das neueste Ungetüm einer Interkontinentalrakete (CSS-4) von etwa zehntausend Kilometer Reichweite. Die beiden transsibirischen Bahnstrecken der Sowjets – die zweite wird gerade erst fertiggestellt – sind 2300 km von Beijing entfernt, Moskau 9500 km, San Francisco 10 000 km. Die anwesenden Militärattachés der Staaten der Welt sehen mit eigenen Augen, was sie aus ihren geheimen Unterlagen schon kennen; die übrigen Diplomaten aus vielen Ländern sind offensichtlich beeindruckt – und dies ist zweifellos die Absicht des Oberbefehlshabers. Unmittelbar nach dem militärischen Teil beginnt eine lange, hinreißend bunte und lockere Parade der verschiedensten Abordnungen aus allen Bereichen des Landes.
    Ich gestehe, daß auch mich das Schauspiel dieser Selbstdarstellung Chinas beeindruckte. Deng Xiaoping ist auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Wahrscheinlich empfindet er Befriedigung weniger über diese Tatsache als vielmehr darüber, daß er schließlich doch, nach sechzig Jahren immer neuer Kämpfe, der Sache eines einigen, kommunistischen Chinas dienen kann, und zwar in großem Stil und an der Spitze. Außenpolitisch ist der Ausgleich mit Japan erreicht; Hongkong ist im Prozeß der Wiedervereinigung begriffen; die Beziehungen zu den USA sind normalisiert, Reagan hat in Beijing Besuch gemacht, Deng und Zhao in Washington. Innenpolitisch hat Deng dem chinesischen Kommunismus zur Rationalität verholfen und ihn damit auf den Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung gebracht. Kein Zweifel: China soll nach Dengs Willen auch in Zukunft eine kommunistische Gesellschaft bleiben, keine liberale, nicht eine demokratische westlichen Zuschnitts, sondern eine autoritäre Gesellschaft in einem autoritären Staat.

    Ob dieser Reformkurs stabil und stetig verlaufen wird, hängt meiner Meinung nach vornehmlich von drei Faktoren ab, nämlich:
Wie lange werden Deng Xiaoping und Zhao Ziyang leben, und wie lange werden sie so kraftvoll das Land führen können?
Wie lange wird es dauern, bis greifbare, für die Massen erlebbare Erfolge die Reform und damit die Reformführer in den Augen der Bevölkerung und der Partei legitimieren?
Wird der Friede sowohl mit der Sowjetunion als auch innerhalb der Region gewahrt bleiben können – oder, mit anderen Worten, aber im direkten Zusammenhang: Wird Chinas Politik der globalen Balance zwischen den auf Ostasien und auf den Pazifik wirkenden globalen Kräften erfolgreich sein?
    Zur ersten Frage ist keine Prognose möglich. Wohl aber scheint mir, daß die Übernahme des Oberbefehls durch Deng eine Konsequenz aus der Besorgnis war, weder Zhao Ziyang noch – damals – Hu Yaobang oder ein anderer besäßen der Armee gegenüber ausreichende Autorität. Zhao und Hu wurde damals zumindest ein unverkennbarer Unterschied ihrer politischen Temperamente nachgesagt. Sollte Deng zu schnell ausscheiden, so könnte die Regelung der Nachfolge – wie in anderen kommunistischen Staaten auch – eine Periode der Unsicherheit auslösen. Der Reformkurs mag, vor allem im ökonomischen Bereich, Fehl- und Rückschläge erleiden, auch Kompromisse und Korrekturen unumgänglich werden lassen; aber Dengs Pragmatismus – zusammen mit seiner Autorität – ist derzeit die beste Gewähr für eine erfolgreiche Bewältigung der schwierigen Zeit des Wandels. Da Zhao Ziyang als führender Kopf der ökonomischen Reformpolitik für bisherige chinesische Maßstäbe noch relativ jung ist (er ist 1918 geboren), bleiben ihm vermutlich noch viele Jahre, um jetzt gesammelte Erfahrungen nützlich zu verwerten. Aber es

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