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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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geht bei der ökonomischen Reform – schon der Zahl der beteiligten Menschen nach – um das größte Experiment aller bisherigen Wirtschaftsgeschichte. Mir kommt es unwahrscheinlich vor, daß größere, nachhaltige Erfolge schnell eintreten werden. Die destabilisierenden Gefahren sowohl der Arbeitslosigkeit als auch der Inflation könnten
schon nach wenigen Jahren zu provozierenden Krisen und Rückschritten führen. Der Erfolg der Reform wird frühestens nach einem vollen Jahrzehnt erkennbar werden. Sofern bis dahin eine spürbare Verbesserung im realen Lebensstandard des Milliardenvolkes durchschlägt, kann auch ein Anfangserfolg ausreichen, um einen Rückfall in den alten emotionalen Voluntarismus zu verhindern.
    Die dritte Voraussetzung einer anhaltenden Stabilität Chinas, nämlich Ruhe nach außen, hängt nicht nur vom eigenen strategischen Verhalten ab, sondern ebensosehr vom Verhalten der anderen Staaten des Großraums, vor allem aber von der Sowjetunion. Möglicherweise ist die Haltung des Westens entscheidend, sowohl die der USA als auch Europas.
    Je erfolgreicher der Reformkurs Chinas verlaufen wird, um so stärker kann die Herausforderung für Moskau werden, denn ein erfolgreiches chinesisches Beispiel könnte Schule machen in den Klientenstaaten der Sowjetunion und anderswo, zumal in den diktatorisch regierten Ländern der dritten Welt. Falls aber einer der sowjetischen Satelliten ökonomisch wesentlich erfolgreicher sein sollte als Moskau, so sind – nach den bisherigen Erfahrungen – harte Reaktionen eher wahrscheinlich als ein Nachgeben, das einem Teilverzicht auf Herrschaftsansprüche gleichkäme. Wie beweglich auch immer die Generation Gorbatschows sein mag, eine Verstümmelung der sowjetischen Herrschaftssphäre wird sie nicht hinnehmen. Harte Reaktionen sind auch China gegenüber denkbar, falls neuerliche, von Gorbatschow vorgetragene Versuche zur Einigung mit den chinesischen Führern erfolglos verlaufen sollten.
    Angesichts der einstweilen sehr schwungvoll, nahezu unbefangen wirkenden Gesamtstrategie Gorbatschows kann eine großangelegte Entspannungspolitik gegenüber China keineswegs ausgeschlossen werden. Bereits in der kurzen Ära Andropow waren dazu in Moskau Erwägungen angestellt worden – punktuell und sehr zaghaft auch schon unter Breschnew. Diese den Sowjets mögliche Option ist bisher allerdings ohne wesentlichen Effekt auf die tatsächliche Außenpolitik Moskaus geblieben. Vielmehr haben die
sowjetischen Führer unwillentlich fast alle Staaten im Osten und Südosten Asiens in eine ablehnende Haltung gegenüber der UdSSR hineinmanövriert.
    Nachbarn, aber keine Freunde
    Die Großregion von Singapur oder Manila bis Urumtchi und Beijing oder Wladiwostok ist politisch gekennzeichnet durch eine weitgehende Isolation großer und wichtiger Nationen: Weder China noch die Sowjetunion, weder Japan noch Vietnam, weder Nord- noch Südkorea haben wirkliche Freunde in der Region; und die militärisch und wirtschaftlich hier präsenten USA genießen zwar Respekt, nicht aber Freundschaft.
    Nicht nur Geographie und Geschichte stehen der gegenseitigen Verständigung im Wege; auch die kulturelle Vielfalt kommt erschwerend hinzu. Chinesen und Japaner haben zwar weitgehend gleiche Schriftzeichen, die Sprache des anderen aber verstehen sie nicht. Russen und Koreaner haben ihre eigenen Alphabete, die sonst keiner lesen kann. Djakarta bemüht sich, in seinem über fast fünfzig Längengrade ausgedehnten Reich der 13 000 Inseln eine einheitliche indonesische Sprache einzuführen; der Koran freilich – Indonesien ist das größte islamische Land der Welt – muß arabisch studiert werden. Die Filipinos sind Katholiken, in ihrem Parlament in Manila wird englisch gesprochen.
    Diese Region ist im Vergleich zu Nordamerika oder Iberoamerika, auch im Vergleich zu Europa, ein ungeheuer differenziertes Mosaik. Fast ganz Nordamerika spricht eine einzige Sprache und hängt fast ausschließlich dem Christentum an; Iberoamerika spricht zwei eng miteinander verwandte Sprachen und ist durchgehend vom Christentum geprägt; Europa kennt zwar viele Sprachen, ist aber durch fast zwei Jahrtausende gemeinsamer kultureller Entfaltung und durch die gemeinsame christliche Religion weitgehend homogen. Dagegen stehen sich in Asien vom Hinduismus bis zum Buddhismus, von Konfuzius und Jesus von Nazareth bis zu Mohammed, vom Shintoismus bis zum chinesischen oder russischen Kommunismus große Religionen, bedeutende Philosophien und

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