Menschen und Maechte
hatte. So stellte ich dieselbe Frage nach der Inflationsgefahr im allgemeinen und der derzeitigen Inflationsrate im besonderen.
Dengs Antwort war sehr optimistisch gefärbt: »Ich glaube nicht, daß es in China Inflation gibt. Aber der anstehende Beschluß über die Reform des Preissystems sowie der Löhne und Gehälter kann uns natürlich einige Inflationsprobleme bescheren.« Ich wies darauf hin, daß die chinesische Führung in nächster Zeit eine
ganze Reihe noch schwierigerer Fragen vor sich haben werde: »Hoffentlich haben Sie dann wieder eine glückliche Hand! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Entschlossenheit und zu dem Mut, mit dem Sie die Reform der Wirtschaft angepackt haben.«
»Ich weiß ganz gut, daß ich nur über geringe wirtschaftliche Kenntnisse verfüge«, erwiderte Deng. »Ich habe nur den ganz allgemeinen Vorschlag gemacht, eine flexiblere Politik einzuschlagen. Die Verwirklichung dieses Rats ist die Aufgabe anderer, die aber für die Reform meine volle Unterstützung haben. Ich bin von der Notwendigkeit einer Reform überzeugt. Und die bisherigen Erfolge bei der Verwirklichung der neuen Politik geben mir recht. Vor allem beweisen sie, daß die Verantwortlichen es auch ohne mich schaffen. Ich denke, in drei Jahren werden sich Veränderungen auch in den Städten bemerkbar machen. Natürlich gibt es auch Menschen, die über all das beunruhigt sind, denen die ganze Richtung nicht paßt. China wird drei Jahre brauchen, um ihre Sorgen zu zerstreuen …«
Am Ende kam Deng auf die bevorstehende Militärparade zu sprechen; es sei die erste Militärparade seit sehr langer Zeit. Es werde den Soldaten gefallen, aus Anlaß des Staatsgründungstages einmal auch öffentlich die Leistungsfähigkeit der chinesischen Armee vorführen zu können. Ein paar Tage später sah ich, wie sich die Generale gegenseitig beglückwünschten, nachdem ihre Parade vorzüglich abgelaufen war; von der Ehrentribüne aus konnten wir beobachten, wie sie sich an der Seite – unsichtbar für das Publikum – umarmten.
Ich hatte in meinem Leben allerhand Militärparaden erlebt, große wie kleine, pompöse wie auch sachliche. Als junger Soldat in der Wehrmacht wie auch drei Jahrzehnte später als Verteidigungsminister habe ich gelernt, mich von einer Parade nicht sonderlich beeindrucken zu lassen. Aber das Schauspiel auf dem Tien-an-Men-Platz und entlang der Tschangan-Straße war wirklich überwältigend. Wer im Fernsehen die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Los Angeles gesehen hat, der kann sich eine Vorstellung machen, wenn er die Zahl der Akteure im Stadion von Los Angeles mit 100 multipliziert: große und kleine bunte Fahnen in allen
Regenbogenfarben, viele große Fesselballons in pompejanischem Rot und Zehntausende kleiner Luftballons rund um den Platz, dazu eine halbe Million buntgekleideter Menschen, die in großen Kreisen zur Musik tanzten. Vom Militär war eigentlich nichts zu sehen außer einer großen Militärkapelle.
Dann Stille. Deng Xiaoping, flankiert von Zhao Ziyang und Hu Yaobang, ist auf dem Balkon des Tores des Himmlischen Friedens erschienen. Er tritt ans Mikrophon.
Seine Rede bringt alle seine politischen Ziele auf prägnante Formeln. Deng spricht nur sieben oder acht Minuten; die uns gleichzeitig übergebene englische Übersetzung ist ganze 63 Zeilen lang. Das Ziel der nationalen Wiedervereinigung kommt schon im allerersten Satz vor, es wird in den drei Schlußsätzen wiederholt und ausgefächert; dies Ziel sei »tief verwurzelt in den Herzen aller Abkömmlinge des Gelben Kaisers«. Diese selbstbewußte nationale Formel hatte auch Zhao Ziyang am Vortage schon gebraucht; sie knüpft an eine legendäre Figur der chinesischen Vorgeschichte an, einen Kaiser, der Jahrtausende vor Christus gelebt haben soll. Dann wird Mao Zedong als Staatsgründer gefeiert. Er kommt noch ein zweites Mal vor, im Zusammenhang mit der »Wiederherstellung« seines Denkens nach Ausschaltung der »perversen Handlungen der gegenrevolutionären Viererbande«. Deng definiert Maos Denken als »Suchen der Wahrheit aus den Tatsachen«. Andere Namen kommen nicht vor. Aber Deng gegenüber, in der Mitte des Platzes, steht ein großes Porträt von Sun Yatsen; auch das ein Zeichen des nationalgeschichtlichen Selbstbewußtseins. Bemerkenswert die abschließende Aufforderung, die Bildung, das Wissen und die Rolle der Intellektuellen anzuerkennen. Alles in allem eine selbstbewußte und entschiedene Rede, von Deng kraftvoll
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