Menschen und Maechte
Pearl Harbor und damit zum Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg und zur Eroberung riesiger Gebiete Asiens und Polynesiens. Erst sehr viel später erfuhr ich, daß er den Militärs seine Mißbilligung nicht verhehlt hatte, die Entscheidung aber nicht verhindern konnte. Bekannt war mir, daß
er 1945 persönlich die Kapitulation seines Reiches entschieden und verkündet hatte; daß er von General McArthur sowie vom Internationalen Gerichtshof unbehelligt gelassen worden war und daß er schließlich 1947 die demokratische Verfassung proklamierte. Über alle diese unerhört wechselvollen Ereignisse hinweg hat er an der Spitze seines Staates gestanden. Gleichwohl stellt er für die meisten Japaner noch immer eine Instanz höchster Autorität dar, auch wenn sie ihn fast niemals zu sehen bekommen, da er vom öffentlichen Leben vollständig isoliert ist.
Als ich dem kleinen, höchst bescheiden auftretenden alten Herrn persönlich begegnete, erschien er mir wie eine Inkarnation von Ruhe und Weisheit; die brutalen politischen Entscheidungen, an denen er im Laufe seines Lebens teilhatte, blieben mir rätselhaft angesichts seiner leisen Würde.
Entsprachen die vergoldeten Chrysanthemen, das Wappen des Kaiserhauses, noch der historischen Wahrheit? Sie waren überall zu sehen: auf den Einladungskarten des Tenno und auf den silbernen Vasen, welche man bei Begegnungen mit ihm als Gastgeschenk erhielt; ich stellte die Vasen im Kanzler-Bungalow in gläserne Vitrinen auf. Wäre nicht doch das Schwert ein ehrlicheres Symbol gewesen? Ich dachte an den Titel des berühmten Buches »The Chrysanthemum and the Sword« der Amerikanerin Ruth Benedict. Oder war der mit diesen beiden Symbolen ausgedrückte Dualismus im Charakter des japanischen Volkes inzwischen überlagert worden? Die Verwestlichung und ein überwältigend erfolgreicher Kapitalismus legen es jedenfalls nahe, das moderne Japan eher in seinen weltumspannenden Industrieunternehmungen oder in der Vielfalt von Fernsehkanälen und Mikrochips verkörpert zu sehen.
Der Kaiserpalast inmitten eines Parks im Zentrum der riesenhaften Hauptstadt, die von endlosen, über Stelzen oder durch Tunnels geführten Stadtautobahnen durchzogen wird, auf denen Millionen von Autos unterwegs sind, gleicht einer unberührten kleinen Insel in einem aufgewühlten Meer. Der Palast verbindet herkömmliche japanische Dächer und Fassaden mit zeitgenössischer, raffiniert einfacher Innenarchitektur. Er ist eines der schönsten Gebäude des zwanzigsten Jahrhunderts, das Tradition und Moderne
in überzeugender Weise zur Synthese geführt hat. Hat auch die japanische Nation insgesamt zu solcher Synthese gefunden? Ich glaube das nicht.
In Kyoto besuchten meine Frau und ich den Felsgarten Rioan. Es war ergreifend zu sehen, wie nicht nur ältere und alte, sondern auch junge Japaner in regungsloser Betrachtung der kunstvollen Anlage versunken schienen. Es handelt sich um einen kleinen Garten ohne Bäume, ringsum von hölzernen Galerien eingefaßt wie ein Stilleben von einem Rahmen; fünfzehn Felsen und Zigtausende kleiner Kiesel, sorgfältig geharkt, strahlen seit fünf Jahrhunderten eine große Ruhe aus. Wir hatten mehrere Erlebnisse dieser Art. So beobachteten wir eine große Anzahl Menschen, die am Seeufer gegenüber dem Goldenen Pavillon geduldig auf das Anzünden eines Holzstoßes warteten; der Rauch sollte durch eine streng geformte alte Kiefer zum Himmel aufsteigen. Wir sahen, wie sie mit heiterer Gelassenheit in einem Moosgarten bunte Ahornblätter auflasen und über deren Form und Farbe meditierten. Welch unglaublicher Gegensatz zu dem arbeitswütigen Betrieb in den Fabrikhallen!
Japan hat seinen Weg für die nächsten Jahrzehnte und für das einundzwanzigste Jahrhundert noch nicht bestimmt. Es ist sich – zwar aus ganz anderen Gründen als die Bundesrepublik Deutschland, ihr darin aber vergleichbar – seiner Zukunft keineswegs gewiß. Während Japan sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Meiji-Tenno in Wissenschaft, Medizin, Industrie und Verfassung stark an deutsche Vorbilder angelehnt hatte, dominieren heute amerikanische Vorbilder – aber in beiden Fällen ging die Anpassung nicht in die Tiefe. Die Japaner sind wohl das begabteste Volk, insofern es um die Übernahme von kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften anderer Völker und um deren praktische Anwendung geht. Ihnen eignet eine große Bereitwilligkeit, wissenschaftlich, technisch, wirtschaftlich
Weitere Kostenlose Bücher