Menschen und Maechte
ich ganz offensichtlich ein Faß angestochen. Breschnew sprach fast eine halbe Stunde über China, lediglich mit gelegentlichen Atempausen, die sich durch Zwischenfragen von mir ergaben.
Breschnew erzählte ausführlich, wie die Sowjetunion der Volksrepublik China jahrelang auf vielen Gebieten Hilfe geleistet
habe. Warum die Beziehungen zwischen Moskau und Beijing schon seit über einem Jahrzehnt schlecht seien? Er wisse, offen gesagt, den Grund auch nicht. Vielleicht sei die Entfremdung nach einem China-Besuch Chruschtschows entstanden; er wisse das nicht: »Vielleicht liegt der Grund im chinesischen Großmacht-Chauvinismus. Die Chinesen haben endlose innere Kämpfe untereinander, aber nach außen versuchen sie, überall Zwietracht zu säen. Sie werden Ihnen, Herr Bundeskanzler, einen guten Empfang bereiten. Sie werden Ihnen sagen: Man darf den Russen nicht trauen, die Russen wollen ganz Deutschland und ganz Europa erobern und Sie, Herr Bundeskanzler, ins Gefängnis werfen.«
Bei meinem China-Besuch ein Jahr später erwies sich diese Prognose als nicht ganz falsch. Es herrschte ein tief verankertes gegenseitiges Mißtrauen zwischen Beijing und Moskau. Ob Breschnew sich der Fehler bewußt war, die Stalin mit der Bevormundung Maos und später dann Chruschtschow mit dem abrupten Abbruch aller Hilfsprogramme gemacht hatten, wage ich nicht zu entscheiden. Fest stand für mich hingegen, daß die im Kern aus der Geschichte und der geostrategischen Situation stammende gegenseitige Aversion mit ideologischen Differenzen nur oberflächlich erklärt war.
Dem Zwiespalt mit China widmete Breschnew lange Passagen. »Jeden Monat gibt es dort neue Richtungen. Zur Zeit ist die Lehre von Konfuzius das große Thema. Ich versuche, Ihnen wiederzugeben, was ich verstanden habe. Mao hat gesagt, jeder Chinese müsse in sich selbst die Fehler suchen, die auf Konfuzius zurückgehen. Welch ein Unfug! Ich glaube, von hundert Chinesen haben 99 keine Ahnung, wer Konfuzius ist. Einmal habe ich in Beijing eine Reinigungskampagne erlebt – das war zu der Zeit, als unsere Beziehungen noch gut waren. Damals wurde die ›Persönlichkeit‹ aller Chinesen überprüft. Sie mußten an sich selber feststellen, ob sie Feinde waren oder nicht. Ich habe beobachtet, wie Chinesen vor der Wand einer Pagode standen, um herauszufinden, ob sie dem verderblichen Einfluß von Konfuzius ausgesetzt waren …
Einmal hat Mao auf einer Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien gesagt: ›Man muß gegen den Imperialismus
Krieg führen; auch wenn dabei dreihundert Millionen Menschen sterben, so werden wir schließlich doch den Imperialismus besiegen. ‹ Jetzt sagen die Chinesen, ich, Leonid Breschnew, hätte hundertprozentig den Imperialismus restauriert. Damals waren Togliatti und unsere anderen Freunde von Maos Worten schockiert, obwohl man Mao damals noch sehr achtete.
Bei einer späteren Konferenz in Moskau führte Liu Schaotschi das Wort. Die Konferenz dauerte zwei oder drei Monate. Liu Schaotschi war sehr autoritär. Nachts hat er immer lange Berichte nach Beijing geschickt, deshalb konnte er immer erst mittags zu den Sitzungen kommen. Dann ist er plötzlich verschwunden, es gab ihn einfach nicht mehr. Ich weiß nicht, was mit Liu Schao-tschi passiert ist. Zu Lius Nachfolger haben sie Lin Biao gewählt; aber der ist dann in einem Flugzeug umgekommen. Danach wurde der Kampf gegen dessen Anhänger geführt… Die Chinesen kennen bloß Intrigen. Auch jetzt gibt es wieder innere Kämpfe. Das alles ist ein unvorstellbarer Verschleiß ihrer Kader; immer neue Gesichter erscheinen auf der Bühne. Militärs und Zivilisten kämpfen gegeneinander … Das chinesische Volk hat viel Disziplin; der Grund dafür liegt wohl in der Angst. Die Roten Garden haben öffentlich Menschen hingerichtet. Wenn das Volk sieht, wie anderen die Köpfe abgeschlagen werden, dann wird es natürlich von Angst gepackt. Und wer Angst hat, der hütet seine Zunge.«
Bei diesem letzten Satz dachte ich: Zu dieser Erkenntnis bedarf es für einen Russen nicht der chinesischen Erfahrung. Breschnew erwähnte nicht, daß die Streitigkeiten zwischen Moskau und Beijing 1960 auf einem Konzil der 81 Kommunistischen Parteien durch verbale Kompromisse nur verdeckt, nicht beigelegt worden waren. Natürlich muß ihm der damalige Kampf um den Hegemonialanspruch der sowjetischen KP in Erinnerung gewesen sein; seine Darstellung war nicht falsch, aber sehr einseitig. Übrigens hat er weder Zhou Enlai noch
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