Menschen und Maechte
Deng Xiaoping in seine Kritik einbezogen; deren Namen fielen überhaupt nicht.
Zum Schluß sprach Breschnew ausführlich über den Aufbau der chinesischen Atomstreitmacht: Es werde noch lange dauern, bis diese so stark sei wie die sowjetische. Mit den chinesischen
Luft- und Panzerstreitkräften verhalte es sich ähnlich, man solle sie nicht überschätzen. Ganz offenkundig wollte Breschnew den Eindruck erwecken, die Sowjetunion sei über die chinesische Rüstung nicht besorgt. So behauptete er, die chinesischen Berichte über eine sowjetische Millionenarmee entlang der Grenze seien reine Propaganda. Ich wußte, daß er übertrieb; ich spürte, daß China die sowjetische Führung erheblich beunruhigte. Breschnew wiederholte mehrfach, die sowjetische Seite wünsche freundschaftliche Beziehungen zu China – »ohne irgendwelche militärischen Versuchungen«.
Ein Jahr später zeigte sich, daß die amerikanisch-sowjetischen SALT-Gespräche von der sowjetischen Sorge über die chinesischen Atomstreitkräfte erheblich beeinträchtigt wurden. Von Moskau aus gesehen – so sagte mir 1975 ein Russe – sei die künftige Stärke Chinas zwar ein Problem von morgen, aber ihre Auswirkungen zeigten sich schon heute. Für Washington sei das alles nur ein Problem von übermorgen. Dieser Umstand führe bei SALT zu Verständnisschwierigkeiten zwischen Moskau und Washington.
Im Herbst 1975, unmittelbar vor Antritt meiner Chinareise, ließ Breschnew mir plötzlich sagen, die von ihm eben noch so wegwerfend behandelte chinesische Atomstreitmacht habe, vor allem bei Raketen und nuklearen Sprengköpfen, große Fortschritte gemacht. Jetzt liege Moskau innerhalb deren Reichweite. Wenn die Chinesen erst ein Kräfteverhältnis von 1:10, das heißt zehn Prozent der sowjetischen nuklearen Streitkräfte, erreicht hätten, beginne die Gefahr eines Konfliktes. Gegenwärtig sei das Verhältnis noch 1:60. Aber Beijing scheine sich stark zu fühlen – eine für eine junge Atommacht typische Selbstüberschätzung. Moskau habe sich deshalb entschlossen, zusätzliche Streitkräfte in den Osten zu verlegen und im Osten aufzurüsten. Den Fehler Stalins, der 1941 von Hitlers Angriff überrascht worden ist, werde man nicht wiederholen.
Mein Besuch in Beijing habe, so Breschnew weiter, für die Chinesen eine außerordentliche Bedeutung; aus chinesischer Sicht nämlich sei Deutschland im Verhältnis zur Sowjetunion ebenso wichtig wie die USA. Beijing werde gewiß versuchen, mich antisowjetisch
zu beeinflussen und mir die Entspannungspolitik auszureden. Das war in der Tat zu erwarten, und Mao Zedong hat dann auch Vorstöße in diese Richtung unternommen. Nach meiner Rückkehr aus China erkundigte sich Breschnew angelegentlich nach meinen Eindrücken. Ich ließ sie ihm gern übermitteln. Das Interesse Moskaus an der weiteren Entwicklung entlang seiner Ostgrenzen war unverkennbar. Mir schien es nur natürlich, daß sich die beiden kommunistischen Großreiche nicht verstanden; sie mißtrauten einander – mit einem wesentlichen Unterschied: In Beijing glaubte man das sowjetische Verhalten berechnen zu können, während man in Moskau das Gefühl hatte, sich einer Gleichung mit zu vielen Unbekannten gegenüberzusehen.
Der Kreml wollte wissen, warum ich nach Urumtchi, der Hauptstadt Xinjiangs, gefahren sei. Ich sagte wahrheitsgemäß, ich hätte keinen Grund gesehen, diesem chinesischen Vorschlag nicht zu folgen; Bundespräsident Scheel besuche ja demnächst auf Grund einer sowjetischen Einladung auch Taschkent. Beide Städte symbolisieren den chinesisch-sowjetischen Wettbewerb um Gebiete in Zentralasien, die weder von Chinesen noch von Russen besiedelt sind.
Die Moskauer Gespräche im Oktober 1974 endeten harmonisch. Ich hatte mit dem Besuch keine unmittelbar operativen Ziele verfolgt. Wohl aber standen mir zwei allgemeine Zwecke vor Augen: Zum einen wollte ich die sowjetische Führung näher kennenlernen, um ein Gefühl für ihre Art zu denken, ihre zukünftige Politik und ihre möglichen Reaktionen auf die Politik des Westens und Bonns zu erlangen. Zum anderen wollte ich meinen sowjetischen Gesprächspartnern ein Verständnis der neuen Bundesregierung und meiner Art, die Dinge zu sehen, vermitteln. Moskau sollte wissen, daß wir willens waren, die Brandtsche Ostpolitik fortzusetzen und vornehmlich auf wirtschaftlichem Felde auszufüllen; aber man sollte auch erkennen, daß wir unsere deutschen Sicherheitsinteressen dabei nicht aus dem Auge verlieren
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