Menschen und Maechte
wirkte er überzeugt und überzeugend. Ich antwortete, meiner Meinung nach werde die politische Elite in keinem der größeren Staaten der Welt absichtlich einen atomaren Krieg in Kauf nehmen, ganz unabhängig davon, welche Persönlichkeiten in Moskau oder Washington an der Regierung seien. Die Gefahr eines Atomkrieges gehe nicht von Washington oder von Moskau aus; aber bei kleinen Staaten könne sie nicht ausgeschlossen werden, so wie es ja auch
Terroristen gebe, die den eigenen Tod in Kauf nehmen. Jedoch stellten bereits Drohungen eine Gefahr dar; deshalb trete die deutsche Seite für den Nichtverbreitungsvertrag für SALT I und SALT II ein. Es liege in unserem eigenen und im europäischen Interesse, daß es über 1977 hinaus zu einer weitertragenden SALT-II-Vereinbarung komme.
Breschnew warf ein: »Dessen bin ich sicher.« Tatsächlich aber hat sein Treffen mit Gerald Ford in Wladiwostok wenige Wochen später – unter anderem der sowjetischen Langstreckenbomber Backfire und der SS-20-Raketen wegen – nicht zum Durchbruch geführt. Erst als Jimmy Carter bereit war, die Nuklearwaffen mit europäisch-strategischen Reichweiten (und damit die sowjetischen SS 20) auszuklammern, ist es 1979 zu SALT II gekommen – viel zu spät, um den Entspannungsprozeß noch voranzutreiben.
Ich konnte das damals nicht wissen; wohl aber sah ich die auf Europa und auf die Bundesrepublik gerichteten sowjetischen Nuklearwaffen. Deshalb lenkte ich das Gespräch auf das Gleichgewicht in Europa, zu dessen Erhaltung auch die amerikanischen Truppen in Europa notwendig seien; aber im ganzen könne man hier wohl auf beiden Seiten mit geringeren Streitkräften auskommen. Der Schlüssel zur Sicherheit Europas liege im Gleichgewicht nicht nur mit den sowjetischen Truppen, sondern auch mit deren Raketen.
Meines Wissens war dies das erste Mal, daß wir von Bonner Seite auf das spezifische Ungleichgewicht hinwiesen, das mit der großen Zahl sowjetischer Mittelstreckenraketen gegeben ist, die auf europäische Ziele und auf die Bundesrepublik gerichtet sind. Ich hätte die Bedrohung durch die eurostrategischen Waffen der Sowjetunion schon allein deshalb zur Sprache gebracht, weil Breschnew seinerseits davon gesprochen hatte, die Sowjetunion sei durch amerikanische Raketen aus der Bundesrepublik bedroht. Das war eine starke Übertreibung gewesen, denn die sowjetischen Territorien lagen außerhalb der Reichweite der damals bei uns stationierten amerikanischen Waffen, und Breschnew wußte das natürlich.
Darüber hinaus aber hielt ich die Betonung des Gleichgewichts für nötig, weil ich eine Beunruhigung über die damals in Erprobung
befindlichen neuen sowjetischen Mittelstreckenraketen SS 20 empfand, die mir eine zusätzliche Bedrohung meines Landes darzustellen schienen. Der Generalsekretär oder seine Stäbe sollten wissen, daß hier ein Problem entstand, das wir unsererseits erkannt hatten. Tatsächlich haben dann die neuen SS 20 und die neuen sowjetischen Backfire-Bomber von November 1974 an in den SALT-Gesprächen eine wichtige Rolle gespielt.
Die ab 1976 forcierte SS-20-Aufrüstung ist später zu einem der wichtigsten Faktoren für den Zerfall der Entspannungsphase zwischen West und Ost geworden. Aber diesen Zerfall sahen damals weder Breschnew noch ich voraus. Im Gegenteil: ich spürte Breschnews unverkennbaren persönlichen Willen zu weiterer Entspannung, und er erkannte den meinigen. Wir begriffen, daß der jeweils andere kompromißbereit war, aber nicht kompromißbereit zum einseitigen Nachteil für das eigene Land – auch nicht zum einseitigen Nachteil der eigenen Verbündeten und Freunde.
Auch in späteren Jahren hat es Breschnew mir gegenüber stets vermieden, seine Unzufriedenheit mit den Führern kommunistischer Staaten anders zu äußern als durch vorsichtigste Andeutungen. In diesem Punkte hielt er – trotz seines sanguinischen Temperaments – immer auf Selbstdisziplin. Notfalls ließ er mich indirekt, durch mündliche Bemerkungen Dritter, sein Urteil oder seine Kritik wissen.
Von dieser Zurückhaltung waren allein die Volksrepublik China und Mao Zedong ausgenommen. Beiläufig hatte ich meine Absicht zu einem Besuch Beijings erwähnt, was ihn nicht erfreuen konnte. Breschnew fragte mich sofort nach meiner Einschätzung der Rolle Chinas. Ich sagte, ich betrachtete die Spannung zwischen der Sowjetunion und China mit einer gewissen Sorge, denn im Weltmaßstab könne sie den Entspannungsprozeß nur beeinträchtigen. Damit hatte
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