Menschen und Maechte
Ost-Berlin studierten. Der ranghöchste General versicherte ihnen, daß sie »mindestens«
genausogut äßen wie die offiziellen Delegationen nebenan; das reichliche Geschirr und die vielen Gläser mochten ihm recht geben. Während des Essens brachte der russische General mehrere Toasts auf die deutsch-russische Freundschaft aus, die von deutscher Seite erwidert wurden. Jeder Toast endete mit der Aufforderung, das Wodkaglas zu leeren. Als der General bemerkte, daß einer der Deutschen sein Glas nur halb austrank, stand er auf und stellte pathetisch fest, bei echter Freundschaft müsse man sein Glas zur Gänze leeren. Einer der Unsrigen hatte jedoch bemerkt, daß sich die russischen Kollegen statt Wodka Wasser nachschenkten. Als er dies beim General monierte, erwiderte dieser lächelnd, einem guten Freunde schaue man nicht ins Glas. Unter großem Gelächter wurde nun Wodka an alle ausgeschenkt.
Bei Breschnews Abendessen im bunten Facettensaal war die gesamte sowjetische Führung erschienen. Trotz der offenkundigen Interpretationsunterschiede in den auf Berlin bezogenen Passagen der beiden Tischreden und trotz der Kontroversen in der Nachmittagsverhandlung herrschte eine fast beschwingte Stimmung. Hans Ulrich Kempski von der »Süddeutschen Zeitung« schrieb nachher, die gegenseitige Offenheit habe die Stimmung nicht getrübt; vielmehr »benehmen sich sämtliche Gäste aufgekratzt heiter wie eine Festgesellschaft, die froh ist, ein lästiges Thema hinter sich zu haben, das nun als erledigt gelten sollte … Leonid Breschnew verströmt Charme, macht dem Kanzler massive Avancen und reißt schließlich den Blumenschmuck der Tischdekoration an sich, um allen deutschen Damen eine Rose zu verehren.« So war es in der Tat. Und wenn dahinter auch die kalkulierte Absicht gelegen haben mag, Herzlichkeit zu verbreiten, so waren seine naive Freude und seine Rührung über das deutsch-russische Zusammensein doch echt.
Ohne jeden Zweifel hatte Breschnew nicht nur aus verhandlungstaktischen Absichten von den Opfern und den Leiden der Menschen der Sowjetunion im letzten Kriege gesprochen; es kam ihm offensichtlich aus der Seele, als er sagte, es sei nicht so einfach, einen Strich unter die tragische Vergangenheit zu ziehen. Aber er hatte, das merkte ich immer deutlicher und besonders beim
Abschied, im Laufe der langen Gespräche auch verstanden, daß mein Satz, die Erinnerung an die Vergangenheit könne nur durch den Blick auf eine friedliche Zukunft gemildert werden, ernstgemeint war. Vor unserem Abflug nach Kiew, während der wiederum sehr förmlichen militärischen Zeremonie, kamen Breschnew auf dem Flughafen Tränen in die Augen – die Erinnerungen an die schlimme Vergangenheit oder die Hoffnung auf die friedliche Zukunft haben diesen mächtigen Mann tief bewegt. Mich hat das sehr berührt.
Zu unserer Delegation gehörte auch die Staatsministerin im Bundeskanzleramt, Marie Schlei. Marie hatte ihren Mann während des Rußlandfeldzuges verloren; sie war eine gute Kennerin der russischen Literatur – besonders auch der nachrevolutionären Zeit; vor allem war sie in tiefster Seele von der Notwendigkeit einer Versöhnung zwischen Russen und Deutschen überzeugt. Sie hat die Herzlichkeit und die Menschlichkeit des Gastgebers mit besonderer Dankbarkeit empfunden.
Ich habe Breschnew später noch verschiedene Male getroffen, aber den prägenden Eindruck, den ich aus Moskau mitnahm, mußte ich niemals korrigieren. Leonid Breschnew war ein Russe mit all jenen Eigenschaften, die wir gemeinhin den Russen zuschreiben: Kraft, Trinkfestigkeit, Gastfreundschaft, Sentimentalität, Herzlichkeit, Großzügigkeit – und zugleich Mißtrauen gegen undurchschaubare Fremde, taktische Umsicht und berechnende Schläue, Machtbewußtsein, wenn nötig sogar Brutalität. Doch alles in allem war er weniger ein Fürst im Sinne des Machiavelli als vielmehr ein Mensch, wie ihn Maxim Gorki und viele andere russische Dichter hätten beschreiben können.
Auch ich war während der Minuten, da die russische Militärkapelle unsere Nationalhymnen spielte, ergriffen. Ich dachte an die zwanzig Millionen sowjetischen Toten des Zweiten Weltkrieges, an die sieben Millionen deutschen Toten; ich erinnerte mich an meine eigene Soldatenzeit in Rußland.
Auf dem Rückflug nach Hamburg fühlte ich mich erleichtert. Während der vier Tage hatte ich meine Analysen der sowjetischen Strategie nicht aus den Augen verloren. Die Interessen meines Volkes
hatte ich zurückhaltend im
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