Menschen und Maechte
motorisiert, also beweglich und deshalb durch westliche Waffen schwer zu treffen.
Schließlich betrugen die Reichweiten der SS 4 und SS 5 nur etwa 2000 bzw. 4800 Kilometer; die Reichweite der SS 20 hingegen schätzt man auf bis zu 5500 Kilometer. Sie reicht in Richtung Westen also keineswegs über den Atlantik, aber man kann sie viel weiter östlich aufstellen als die SS 4 und SS 5; sogar von jenseits des Ural kann sie alle Ziele auf westeuropäischem Boden erreichen. Mit einer solchen Verschiebung der Stellungen nach Osten sind die SS 20 für die in Europa stationierten nuklearen Waffen der Amerikaner, Engländer und Franzosen unerreichbar; sie können dann nur noch von amerikanischen Interkontinentalraketen (ICBM) zerstört werden. Bei den ICBM herrscht aber seit SALTI ein Gleichgewicht zwischen den Amerikanern und den Russen; deshalb kann nicht damit gerechnet werden, daß die USA in der Lage sind, ihre ICBM gegen sowjetische SS 20 einzusetzen. (Reagans SDI-Argumentation machte fünf Jahre später sogar ausdrücklich klar, daß die beiden Weltmächte sich in Zukunft nicht mehr mit ICBM sollten bedrohen können!)
Mein Erkenntnisstand in der Mitte der siebziger Jahre zwang mich zu dem Schluß, daß die im Aufbau befindliche SS-20-Flotte für Westeuropa um ein Vielfaches gefährlicher war als die alten Flotten der SS 4 und SS 5. Überdies lagen die Angriffsziele der neuen wie der alten Raketen in ihrer großen Masse auf westdeutschem Boden: Das Faustpfand Deutschland wurde immer stärker bedroht – die Möglichkeit einer künftigen politischen Nötigung der Deutschen stieg am Horizont auf.
Mir war unklar, ob Breschnew wirklich wußte, daß die militärische Führung der Sowjetunion im Begriff stand, seinem Land solche Erpressungsinstrumente in die Hand zu geben. Es konnte sein, daß er und das Politbüro vom Militär mit dem Argument bloß routinemäßiger Modernisierung zu dem SS-20-Aufrüstungsentschluß überredet worden waren, ohne daß sie sich die politischen
Wirkungen vor Augen führten. Es konnte aber auch sein, daß das Politbüro bei seinem – übrigens sehr kostspieligen – Beschluß sehr wohl wußte, was es damit ganz Westeuropa, vor allem aber Deutschland zumutete. In beiden Fällen erschien es mir nötig, mit Breschnew darüber zu reden, zumal Carter dies nicht selbst tun wollte, um nicht die SALT-II-Verhandlungen zu belasten.
Am 5. Mai hatten wir in Schloß Gymnich eine lange Aussprache zu zweit. Unsere Beamten hatten eine »gemeinsame Erklärung« vorbereitet und – auf meine Initiative – das schon erwähnte langfristige, auf fünfundzwanzig Jahre angelegte Abkommen über industrielle und allgemein wirtschaftliche Zusammenarbeit. Beide Dokumente lagen in Entwürfen vor, nur in einigen Punkten gab es noch – wie üblich – Formulierungsfragen. Breschnew und ich redeten aber fast ausschließlich über andere Themen: zunächst über die alten, immer noch ungelösten Kontroversen hinsichtlich der vollen Anwendung des Viermächteabkommens und über die Einbeziehung West-Berlins in die deutsch-sowjetischen Beziehungen; schließlich streiften wir einige kritische Aspekte der Weltlage. Der Hauptgegenstand unseres Zusammenseins waren jedoch die Mittelstreckenwaffen in jener Grauzone, die bei allen damals laufenden Rüstungsbegrenzungsverhandlungen ausgespart blieb.
Breschnew begann mit eher allgemeinen, schriftlich vorbereiteten langen Erklärungen und auch Vorwürfen. Ich improvisierte meine Antworten zu jedem seiner Punkte und legte dann meine Besorgnisse ausführlich dar: »Ich habe keine Sorge, daß die Sowjetunion ihre Überlegenheit ausnutzen oder uns gar angreifen könnte, solange die Führung bei Ihnen liegt. Aber ich muß mir Gedanken machen über spätere Zeiten, wenn eine andere Generation die Führung übernimmt – vielleicht eine Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr bewußt miterlebt hat … Ich muß Ihnen widersprechen, wenn Sie gemeint haben, wir verstärkten die Bundeswehr. Dies ist nicht der Fall, es besteht auch keine solche Absicht. Wir halten uns an die Grenzen, die für uns zum Teil international festgelegt worden sind und die wir uns zum anderen selbst gesetzt und öffentlich ausgesprochen haben. Ich freue mich, daß wir endlich unsere Militärattachés ausgetauscht haben, wie wir es
vor vier Jahren in Moskau verabredet hatten. So können Sie jetzt unsere Manöver beobachten; das gibt Ihren Fachleuten Gelegenheit, sich aus erster Hand zu überzeugen, daß ich die
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