Menschen und Maechte
Reserven aus dem eigenen
Lande rasch nach Mitteleuropa verlegen zu können. Ich hielt freilich und halte noch immer diese Probleme nicht für unüberwindbar. Ich denke immer noch, daß eine Truppenbegrenzung in Europa für alle europäischen Staaten und Völker eine große seelische Erleichterung und größeren politischen Spielraum mit sich bringen würde.
Auf militärischem Felde könnte eine Truppenbegrenzung auch erreichen, daß der Westen die militärische Strategie und Planung des frühen Ersteinsatzes (»early first use«) von nuklearen Waffen aufgibt. Bisher geht der Westen von der zahlenmäßigen Übermacht östlicher konventioneller Truppen und Waffen aus und glaubt deshalb gezwungen zu sein, im Verteidigungsfall relativ schnell, nämlich nach wenigen Tagen bereits und als erster sogenannte taktische Nuklearwaffen einsetzen zu müssen. Solche Planungen laufen darauf hinaus, Teile dessen zu vernichten, was verteidigt werden soll. Sie werden auf Dauer vom eigenen Volk nicht akzeptiert werden; im tatsächlichen Verteidigungsfall würden diese Pläne mit den deutschen Städten auch den Kampfwillen unserer Soldaten auslöschen.
Wenn jedoch durch ein Abkommen ein zahlenmäßiges Gleichgewicht der konventionellen Truppen, Flugzeuge und Waffen in Europa hergestellt wäre, so könnte der Westen vernünftigerweise hoffen, sich lange Zeit ohne nukleare Waffen erfolgreich zu verteidigen. Erst die Heranführung sowjetischer Reserven aus der Tiefe des russischen Raumes würde dann das Gleichgewicht erschüttern können; dem wäre jedoch noch einmal für längere Zeit damit zu begegnen, daß auch auf westlicher Seite französische – und die relativ kleinen amerikanischen und englischen – Reserven herangezogen werden. Dies hieße nicht, »den Krieg wieder führbar zu machen«, sondern sich von der nuklearen Abschreckung ab- und der konventionellen Abschreckung zuzuwenden.
Es lag auf der Hand, daß eine wesentliche Verringerung ihrer in Mitteleuropa stehenden Truppen für die sowjetische Führung aus blockinternen politischen Gründen nicht wünschenswert war. Ebenso hat bisher Frankreich keine Bereitschaft gezeigt, sich mit seinen mobilisierbaren Reserven in die Verteidigung Westeuropas einzufügen. Als Valéry Giscard d’Estaing – als bisher einziger französischer Staatsmann – anfing, sich für das Problem zu interessieren,
wurde er (freilich aus anderen politischen Gründen) von François Mitterrand abgelöst; dieser setzte auf de Gaulles exklusive, allein dem Schutz Frankreichs dienende nationale Nuklearstrategie und verwies Deutschland in die Rolle des Gefechtsfeldes für westliche »taktische« Nuklearwaffen. Aber auch die USA haben MBFR nie mit großem Nachdruck vorangetrieben, zumal eine Ost-West-Verständigung ihre militärische Rolle in Europa tendenziell schmälern würde. Die Folge ist, daß sich östliche und westliche Buchhalter (»Erbsenzähler«) in Wien gegenübersitzen und sich gegenseitig ihre Zahlen streitig machen – und nichts kommt zustande.
Breschnew versicherte, sich dafür einzusetzen, daß beide Seiten ihre Streitkräfte um die gleichen Prozentsätze verringern. Denn es habe sich »doch schon lange ein ungefähres Gleichgewicht der Kräfte herausgebildet; keine Seite ist der anderen spürbar überlegen«. Das war unzutreffend – wenn auch nicht in so hohem Maße, wie der Westen sich selbst glauben macht. Eine vernünftige Antwort des Westens wäre gewesen: Gebt beiden Seiten die gleichen festgeschriebenen Höchstzahlen für Soldaten, Panzer, Geschütze, Flugzeuge und so weiter; was darüber hinaus tatsächlich vorhanden ist, muß gleichzeitig um gleiche Prozentsätze schrittweise abgebaut werden, so daß mit dem letzten Schritt jede Abweichung von der festgelegten Obergrenze eliminiert wird.
Auch der Westen hat sich bei den Wiener MBFR-Verhandlungen in all den langen Jahren seit 1973 bisher nicht produktiv verhalten. Sofern Breschnew wirklich eine Lösung gewollt haben sollte, wie er mir immer versichert hat, so hat er sich entweder zu Hause von den interessierten Stellen (zum Beispiel den Militärs) nicht vollständig unterrichten oder sogar täuschen lassen, oder er hat infolge der endlosen Detailstreitigkeiten der Diplomaten die großen Linien nicht mehr erkennen können.
Für mich war es eine wichtige Grundbedingung, daß die Bundeswehr keinen Sonderstatus erhielt, etwa dadurch, daß sie als einzige auf westlicher Seite Kontrollen und Beanstandungen unterliegen würde. Ich
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