Menschen und Maechte
habe mich aus politisch-psychologischen Gründen immer gegen eine »Singularisierung« der Bundesrepublik und der Bundeswehr gewandt.
Breschnew und ich haben uns häufiger über die MBFR-Problematik ausgetauscht. Seit dem Herbst 1977 wurde dieses Thema aber überdeckt durch zwei neue Probleme: durch die schnelle sowjetische Aufrüstung mit den gegen Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen SS 20, durch die schließlich unvermeidliche westliche Reaktion darauf und durch die auf amerikanischer Seite neu entwickelten, für eine Stationierung in Europa gedachten Neutronenwaffen (Enhanced Radiation Weapons, ERW).
Das Thema der Neutronenwaffen war relativ schnell vom Tisch, weil Carter von sich aus seine Absichten aufgab. Dagegen nahm das Thema SS 20 an strategischer Bedeutung schnell zu, es beunruhigte mich sehr. Dabei fiel sehr ins Gewicht, daß die atomaren Mittelstreckenraketen insofern eine »Grauzone« bildeten, als sie weder bei den SALT-Verhandlungen noch bei den MBFR-Verhandlungen eingeschlossen waren, sondern vielmehr von allen Abrüstungsverhandlungen ausgenommen blieben; dies bedeutete, daß die Sowjets völlig freie Hand hatten. So hat diese Frage beim zweiten Besuch Breschnews im Jahre 1978 eine große und bei unseren letzten Begegnungen 1980 in Moskau und 1981 abermals in Bonn eine überragende Rolle gespielt.
Breschnew in Langenhorn
Breschnews Gegenbesuch war fällig; mehrfach war er nahezu festgelegt gewesen, dann aber immer wieder – sowohl aus außenpolitischen Gründen als auch wegen des Bundestagswahlkampfes 1976 und schließlich mit Rücksicht auf Breschnews Gesundheitszustand – verschoben worden. Breschnew litt, seit ich ihn kannte, unter gesundheitlichen Belastungen, die oft auch Störungen und Unterbrechungen im Fortgang des politischen Prozesses in Moskau herbeiführten – einschließlich der sowjetischen Deutschlandpolitik.
Als er am 4. Mai 1978 kam, sah ich schon bei seinem Eintreffen auf dem Köln/Bonner Flughafen: Breschnew war sehr gealtert und offensichtlich krank; man mußte wohl in absehbarer Zeit mit
seinem Ausscheiden rechnen. Ich empfand persönliches Mitgefühl mit diesem Mächtigen, dem ein verläßliches Verhältnis zu Deutschland so wichtig erschien, daß er die Strapazen eines anstrengenden Staatsbesuches auf sich nahm. Es war Breschnews zweiter Besuch in Bonn, und ich hielt es für wahrscheinlich, daß es sein letzter sein würde; tatsächlich ist er drei Jahre später, 1981, noch einmal in Bonn gewesen.
Das Jahr 1978 hatte mit einigem Hin und Her wegen Präsident Carters Absicht der Stationierung von Neutronenwaffen auf deutschem Boden begonnen. Einige der außenpolitischen Mitarbeiter Breschnews – und später auch er selbst – zeigten sich darüber beunruhigt, weil dies eine neue Rüstungsrunde einläuten werde. Es gab jedoch auch Anzeichen dafür, daß die sowjetischen Militärs sich deswegen in Wahrheit keine Sorgen machten; meiner Auffassung nach wollten sie ganz gern in den Besitz ähnlicher Waffen gelangen. Die Neutronenbombe würde mitnichten den Westen begünstigen, das wurde mir immer plausibler. Tatsächlich aber war Moskau über das geringe Tempo bei den Verhandlungen über SALT II besorgt.
Ich selbst hatte Anfang 1978 eine andere Sorge, nämlich die sowjetische SS-20-Aufrüstung. Im November 1977 hatte ich in London zum ersten Mal öffentlich darüber gesprochen, und ich hatte Breschnew ausdrücklich auf die betreffende Passage meiner Rede hinweisen lassen. Die Produktion der sowjetischen SS-20-Raketen war inzwischen voll angelaufen; wir waren darüber durch die amerikanische Satellitenaufklärung ziemlich genau im Bilde. Die Gesamtzahl der in Osteuropa stationierten SS 20 war damals noch klein, aber es kamen pro Monat etwa acht Raketen hinzu. Jede SS 20 kann drei Atomsprengköpfe tragen, von denen jeder einzelne in ein anderes Ziel lenkbar ist. Das heißt, eine einzelne SS-20-Rakete kann gleichzeitig drei verschiedene Ziele vernichten – seien es drei Flugplätze oder drei Städte.
Die SS 20 sollte zunächst offenbar weitgehend die alten SS 4 und SS 5 ersetzen; diese trugen nur je einen Atomsprengkopf. Hinzu kam, daß aus den alten SS-4- und SS-5-Stellungen (genauer: Lafetten oder »launchers«) nur eine einzige Rakete verschossen
werden konnte; ein SS-20-launcher hingegen ist nachladbar, er kann weitere Raketen abschießen. Ebenso fiel ins Gewicht, daß die alten SS-4- und SS-5-Stellungen ortsfest waren; die neuen SS-20-launcher hingegen sind
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