Menschen und Maechte
Freilassung auf leisem Wege zu betreiben, wie wir selbst dies in aller Regel taten. Einmal, als ich mich in einem Gespräch mit Breschnew unter vier Augen für einen inhaftierten, im Westen sehr bekannten sowjetischen Intellektuellen einsetzte, hatte Breschnew offensichtlich den Namen nicht parat; mein Dolmetscher hörte, wie Breschnew den seinigen fragte, wer das sei und was es mit ihm auf sich habe. Das war Anschauungsunterricht aus erster Hand über den selektiven Kenntnisstand eines kommunistischen Staatschefs hinsichtlich der öffentlichen Meinung im Rest der Welt.
Mir ist nie ganz deutlich geworden, in welchem Maße eigentlich die marxistisch-leninistische Ideologie die tatsächliche Außenpolitik der Sowjetunion beeinflußte. Karl Marx’ Leben ist vor gut einem Jahrhundert zu Ende gegangen; er hatte nicht unter den Voraussetzungen der Existenz eines hegemonistischen kommunistischen Staates oder der Existenz von Nuklearwaffen gedacht und geschrieben. Anders Lenin – übrigens auch Stalin in seinem »Sozialismus in einem Lande« –, aber auch Lenin starb schon vor über fünfzig Jahren, und seine theoretischen Arbeiten passen nicht auf die Situation im letzten Viertel eines Jahrhunderts, das in seiner Mitte einen radikalen Bruch erlebte.
Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges oder die rationalen und irrationalen Auswirkungen von Atomwaffen nachträglich in das Denkgebäude des Marxismus-Leninismus einzufügen, stellte ich mir immer als sehr schwierig vor. Natürlich lasen wir die großen Manifeste der KPdSU und die internationalen Verlautbarungen der mit ihr verbundenen Parteien und Staaten; aber ich war mir sehr unsicher, ob diejenigen, die diese Beschlüsse gefaßt oder sanktioniert hatten, wirklich überzeugt waren. Demgegenüber erschien mir Mao Zedong in seinen weltpolitisch-ideologischen Folgerungen aus dem System des Marxismus-Leninismus von größerer logischer Konsequenz, andererseits aber auch von größerer Gefährlichkeit. Mir gegenüber hat keiner der führenden Russen oder der anderen kommunistischen Staatschefs Osteuropas jemals die Außen- oder Sicherheitspolitik seines Staates mit marxistischen oder leninistischen oder sonstwie kommunistisch-ideologischen Doktrinen begründet; sie bedienten sich stets der Argumente, die
auf dem Boden der eigenen Staatsräson und der eigenen nationalen Interessen gewachsen waren.
Dies war auch auf dem Felde der europäischen Sicherheitspolitik nicht anders. Das außenpolitische Prinzip der Koexistenz – ein abstrakter Grundsatz, der nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als unangreifbar erscheint – mag man auf die eine oder andere Weise aus den Lehren der Vordenker Marx und Engels oder Lenin herauslesen. Aber das Prinzip des militärischen Gleichgewichts, soweit es bedeutet, den andern nicht gefährden zu dürfen, und die Verwendung des Wortes Koexistenz in diesem Sinne sind neue Formulierungen des allgemeinen Friedensgebotes oder des Völkerrechts, wie es zum Beispiel in der Satzung der Vereinten Nationen festgelegt ist. Wenn das Wort Koexistenz jedoch weniger bedeuten soll, dann kann es ein psychologischer Trick sein.
Wie denken die Politbüromitglieder darüber, wie sprechen sie untereinander? Ich habe nie Anzeichen dafür entdecken können, daß sich das Moskauer Politbüro in seinem weltpolitischen Verhalten von früheren Regierungen des russischen Großreiches unterschied. Inzwischen war jedoch ein starker Wille zur Erhaltung des eigenen Friedens hinzugekommen – im Atomzeitalter vernünftig. Ansonsten suchte man, etwa unter den Stichworten des militärischen Gleichgewichts oder der »gleichen Sicherheit«, auf allen Feldern beharrlich und mit taktischem Geschick nach Vorteilen und nach Geländegewinn.
Dies galt offenbar für die SALT-Verhandlungen; es galt jedenfalls auch für die Wiener MBFR-Verhandlungen, an denen die Bundesrepublik beteiligt war. Seit den Rapacki-Plänen der fünfziger Jahre, seit zwanzig Jahren also, hatte ich mich an der Diskussion über eine gleichgewichtige Begrenzung und Verminderung der in Mitteleuropa stationierten Truppen mit eigenen Überlegungen beteiligt. Die Sache war immer schon theoretisch-konzeptionell schwierig, weil die Geographie des Kontinents östlich und westlich der Trennlinie an Elbe und Werra verschieden große Landmassen und Aufmarschräume aufweist und weil – ebenfalls geographisch vorgegeben – die östliche gegenüber der westlichen Weltmacht den großen Vorteil genießt, Truppen und
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