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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Gesprächsatmosphäre war freundlich geblieben, wenngleich wir in der Sache nicht einig geworden waren. Auf der gemeinsamen Fahrt im Wagen von Gymnich nach Godesberg kamen wir auf die Paritätsfrage zurück; sie war im Text der vorbereiteten gemeinsamen Erklärung noch umstritten. Die sowjetische Seite wollte expressis verbis festschreiben, daß annäherungsweise Gleichheit und Sicherheit in Europa bestehe. Ich hatte Weisung gegeben, dies nicht zu akzeptieren, sondern vielmehr dahingehend zu formulieren, daß Gleichheit der Sicherheit und Parität der Verteidigungsanstrengungen durch Verhandlungen und Abkommen herbeigeführt werden sollten. Auf diese Kontroverse kam Breschnew zurück, ich blieb unbeweglich.
    Schließlich einigte man sich in der Nacht auf einen Text, der beide Seiten das Gesicht wahren ließ: »Beide Seiten betrachten es als wichtig, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt. Sie gehen davon aus, daß annäherndes Gleichgewicht und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen …« Diese Worte waren ausreichend für den Tag; in den folgenden Jahren habe ich diese Formel auch mehrfach in meiner Argumentation gegen die unablässig wachsende SS-20-Flotte benutzt. Angesichts der Differenzen bei den Wiener MBFR-Verhandlungen über die beiderseitigen Zahlenangaben und angesichts der wachsenden Disparität bei den Mittelstreckenwaffen war die Kuh aber nicht vom Eis.

    Das große Essen, das Bundespräsident Scheel auf Schloß Augustusburg zu Brühl gab, und ebenso das »Gegenessen« Breschnews in der Godesberger Redoute waren glanzvolle Gelegenheiten für viele deutsche Gäste, den sowjetischen Staatschef und seinen Außenminister in Person zu erleben; mit Neugier und Interesse folgten sie den beiden Tischreden Breschnews und wurden wenigstens einmal selbst Zeuge, wie Scheel – der vor seiner Bundespräsidentschaft ein erfolgreicher und erfahrener Außenminister gewesen war – und ich auf die selbstbewußten sowjetischen Gäste reagierten. Sie haben keinem großen Ereignis beigewohnt, wohl aber einen Grad von
Normalität im Umgang zwischen Russen und Deutschen erlebt, den sich zehn Jahre zuvor niemand im Traum ausgedacht hätte. Aber man sah auch einen Grad von Nüchternheit, der von der Euphorie, welche einige meiner Parteifreunde ein halbes Jahrzehnt früher mit der Ostpolitik verbunden hatten, weit entfernt war.
    Mein Freund Kurt Becker hatte in der ZEIT zu Beginn von Breschnews Besuch dieses Treffen als eine »heikle Hoffnung« bezeichnet, denn die Entspannung stehe »auf der Kippe«; so ähnlich sah es wohl die westdeutsche Öffentlichkeit im allgemeinen. Tatsächlich wurde dann zwar nichts gekippt – aber es wurde auch nicht viel bewegt. Daß eine größere Zahl von deutschen und sowjetischen Führungspersonen – wie auch die gesamte westdeutsche Öffentlichkeit – die politischen Ziele, Hoffnungen und Ängste der Gegenseite besser verstehen lernten, daß die Russen eingesehen hatten, die Deutschen nicht ins Bockshorn jagen zu können, daß die Deutschen die Russen – trotz all ihrer Macht – doch als sehr menschliche Gesprächspartner kennengelernt hatten: dies alles wog für die Presse nicht sehr viel – sie konnte es ja auch nur zum Teil und nur ganz von fern beobachten.
    Wer näher dran war, der konnte im Menschlichen interessante Züge wahrnehmen. Zum Beispiel Breschnews Trinkfestigkeit. Er trank – auch beim Essen – den Wodka aus Wassergläsern; auf ein kleines Zeichen seines Chefs trat ein persönlicher Kammerdiener vor (ich meine, Breschnew nannte ihn Aljoscha) und füllte das Glas aus einem in der Jackentasche getragenen Flachmann nach. Zum Beispiel Breschnews Disziplin hinsichtlich des ihm auferlegten Rauchverbots; er war ein Passivraucher geworden und bat mich mehrfach, ich möge mir doch bitte eine Zigarette anstecken, deren Rauch er dann genoß. Zum Beispiel Breschnews unverhohlene Neugierde, mehr über die Ursachen des guten Zustands sowohl unserer Landwirtschaft als auch unserer kleinen Ortschaften und Städte erfahren, den er bei seinen längeren Autofahrten durchaus erkennen konnte. Wer russisch verstand, konnte auch hören, welche Bemerkungen bisweilen zwischen Breschnew und Gromyko ausgetauscht wurden. Als Breschnew Befriedigung darüber zeigte, daß ich gesagt hatte, wir wollten keine neuen Bundesinstitutionen
in Berlin einrichten, flüsterte Gromyko zurück: »Das sagen die Deutschen immer und tun dann das Gegenteil.«
    Am lockersten wirkte Breschnew

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