Menschen und Maechte
Westeuropa auslöschen können. Immerhin kündigte Breschnew an – anders als drei Monate zuvor Gromyko in Wnukowo –, daß die Sowjetunion im Rahmen von SALT III bereit sei, »nicht nur die Begrenzung interkontinentaler, sondern auch anderer Waffen« zu erörtern; das schien zu heißen: Bereitschaft, über Mittelstreckenwaffen zu verhandeln.
Diese Verhandlungsbereitschaft habe ich sofort öffentlich begrüßt; über die Drohungen, die nach sorgfältiger Prüfung des Textes übrigens erst für den Fall tatsächlicher Stationierung, nicht bereits für die Verabschiedung des Doppelbeschlusses ausgesprochen waren, ging ich bewußt hinweg. Aber ich habe Breschnew umgehend an den Text unserer gemeinsamen Erklärung vom Mai 1978 erinnert: »Beide Seiten gehen davon aus, daß annähernde Gleichheit und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen.« Dann legte ich sachlich dar, daß die sowjetische SS-20-Rüstung, selbst bei gleichbleibender Zahl der Abschußlafetten (launchers), wie sie bisher für SS 4 und SS 5 bestanden, durch die dreifachen Sprengköpfe, die Mobilität, die größere Reichweite und die Nachladbarkeit das Kräfteverhältnis in Europa erheblich zu Lasten des Westens verschiebe. Im übrigen solle der bevorstehende Doppelbeschluß zu Verhandlungen darüber einladen; dabei werde sich dann zeigen, wo etwa die Militärs ihre Verantwortung für die Sicherheit zu weit trieben.
Die Sowjetführung schien sich über die Einschätzung der weiteren Entwicklung unsicher zu sein; sie schickte auf mancherlei Ebenen Briefe, Briefträger, Botschafter und Kundschafter aus, um zu sondieren. Es konnte sein, daß der gesamte Komplex, der im Laufe der Monate Oktober und November eine weltweite Bedeutung erlangte und die Öffentlichkeit in beiden Teilen Europas erregte, zu einem Test für Breschnews Position in Moskau werden würde. Dabei wurde uns in Bonn nicht klar, wieweit Breschnew selber es war, der die SS-20-Rüstung vorangetrieben hatte; ob er deren militärische Bedeutung für die NATO und die politische Wirkung auf den Westen vielleicht unterschätzt oder die Rüstung möglicherweise – wenn auch vergeblich – zu bremsen versucht hatte. Jedenfalls schien er uns unsicher geworden zu sein, was mich nicht wunderte, denn auch ich hatte zu Hause meine Schwierigkeiten. Das war die Situation, als am 23. November 1979 Gromyko bei mir zum Gespräch erschien.
Abb 23 Ende November 1979, drei Wochen vor der Entscheidung über den lange angekündigten Doppelbeschluß, unternahm Außenminister Gromyko einen letzten Versuch, die Bundesregierung von ihrer Linie abzubringen.
Der bevorstehende Beschluß werde, so Gromyko, den von der Sowjetunion angebotenen Verhandlungen die Grundlage entziehen. Schmidt hatte jedoch den Eindruck, als halte Gromyko an einer in Moskau beschlossenen Linie fest, ohne davon überzeugt zu sein: »Er wirkte auf mich zum ersten Mal etwas ratlos.«
Zu Beginn dieses Besuchs in Bonn lud Gromyko Genscher zu einem Besuch in die Sowjetunion ein; Genscher nahm gern an. Ich selbst annoncierte, daß ich der an mich ergangenen Einladung Breschnews bereits im Frühjahr 1980 folgen würde, da wir im Oktober 1980 Wahlkampf hätten. Mir schien es von großer Bedeutung, in den kommenden Monaten nicht nur enge außenpolitische, sondern auch persönliche Kontakte aufrechtzuerhalten.
Fast unvermeidlich ging es zunächst abermals für Stunden um China. Hua Guofeng war gerade in Bonn gewesen und hatte lange Gespräche mit mir geführt. Ich schilderte ihn als einen selbstbewußten, aber bescheiden auftretenden Mann, als Vertreter einer großen, aber keineswegs aggressiven Macht. Gromyko antwortete, daß die chinesische Führung nach sowjetischem Urteil ihr Konzept von der Unvermeidlichkeit eines Krieges durchaus nicht aufgegeben habe; man sage zwar, daß man den Krieg verschieben wolle – nicht aber, daß man ihn vermeiden könne. Deshalb teile er mein »optimistisches« Urteil nicht. Übrigens verdamme China SALT II, und gegen Vietnam zeige es die von mir bestrittene Aggressivität.
Das Gespräch galt lange dem asiatischen Raum. Ich regte sowjetische Überlegungen an, in der Teheraner Geiselkrise den USA zu helfen. Gromyko wich aus, die USA müßten die Nerven behalten. Anschließend kam es zu einer normalen weltpolitischen Tour d’horizon – vom Persischen Golf über das arabische Öl bis zur europäischen Energiekrise; Europa, Deutschland und Berlin wurden nur gestreift. Erst zum Schluß kam Gromyko
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