Menschen und Maechte
Mittelstreckenwaffen] einbezogen werden; drittens muß auch für diese Waffen dasselbe Gleichheitsprinzip gelten, das bei SALT II vereinbart worden ist.« Seit Anfang der sechziger Jahre habe es – abgesehen von einigen (genau gesagt achtzehn) französischen Raketensystemen – auf europäischem Boden keine Mittelstreckenwaffen mehr gegeben, welche sowjetisches Territorium hätten bedrohen können. Dagegen habe die Sowjetunion immer über SS-4- und SS-5-Raketen verfügt. »Jetzt kommen aber in ständig wachsender Zahl Ihre neuen SS-20-Raketen hinzu. Die SS 20 haben schon jetzt ein erhebliches militärisches Gewicht. In den achtziger Jahren werden sie auch ein erhebliches politisches Gewicht gewinnen. Der Westen sieht zwei Möglichkeiten, hier zum Gleichgewicht zu kommen …«
An dieser Stelle unterbrach mich Gromyko; er suchte Kossygin zu bewegen, diesen Teil des Gesprächs einfach abzuschließen. Kossygin machte auch einen Ansatz, da er aber ein höflicher Mann war, beließ er es bei einem milden Versuch. Ich fuhr fort: »Wenn die eurostrategischen Waffen in SALT III nicht einbezogen werden, so wird nach meiner Einschätzung das westliche Bündnis um so stärker zur Nachrüstung gezwungen sein …« Danach wendete sich das Gespräch anderen Themen zu.
Während des Essens spielte einer der russischen Gastgeber dann seinen Trumpf aus: »Herr Bundeskanzler, wir verstehen Sie nicht. Weder Präsident Carter noch sonst ein Amerikaner hat in Wien die Mittelstreckenwaffen überhaupt erwähnt!« Ich mußte das trocken herunterschlucken und war innerlich tief konsterniert; unmittelbar nach Guadeloupe hatte ich eine solche Unterlassung nicht für möglich gehalten. Aber am nächsten Tage bestätigte mir Cyrus Vance in Tokio, daß die sowjetische Behauptung weitgehend
der Wahrheit entsprach: Die Mittelstreckenwaffen waren nur einmal erwähnt worden – und bloß beiläufig.
Ein paar Tage später ließ man mich aus Moskau wissen, das Thema sei von Breschnew und Carter in Wien doch gestreift worden, allerdings nur während einer gemeinsamen Fahrstuhlfahrt in der sowjetischen Botschaft; im Lift sei Carter auf die SS 20 zu sprechen gekommen. Er habe sich mit Breschnews Antwort, man habe noch nicht genug SS 20, ohne weiteres zufriedengegeben. Man gab mir zu verstehen, Breschnew sei durchaus darauf vorbereitet gewesen, daß in Wien die SS 20 eine wichtige Rolle spielen könnten. So hatte ich zum Schaden auch noch den Spott.
Die Episode veranlaßte, wie mir schien, verschiedene Personen in Moskau wie auch in Ost-Berlin, Mißtrauen gegen die Bundesrepublik und gegen mich zu säen – als ob ich die westlichen Sorgen übertrieben hätte. Aber es gab innerhalb des Ostens auch Mißtrauen untereinander. Gewisse Kreise in Moskau beargwöhnten Honecker und – aus anderen Gründen – Gierek; anderen schien es verdächtig, daß sich offenbar sowohl Kossygin als auch Suslow im Politbüro dezidiert zu außenpolitischen Fragen äußerten. Man spürte in Moskau das Nachlassen der Präsenz Breschnews, der selbst anscheinend Tschernenko favorisierte (was Breschnew mir ein Jahr später einmal selber angedeutet hat). Aber all dies erschien mir nicht als Tröstung. Am 6. Oktober hielt Breschnew eine wichtige Rede, in der er vor dem bevorstehenden Doppelbeschluß der westlichen Allianz warnte. Eine Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa führe zu einer grundlegenden Veränderung der strategischen Lage in Europa; die Sowjetunion würde dann durch zusätzliche Schritte ihre Sicherheit festigen. In ihrer Wirkung auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik und allgemein in Westeuropa war die Rede eindrucksvoll.
Die Rede enthielt zugleich Drohungen und Verlockungen. Einerseits wurde die NATO beschuldigt, sich ein militärisches Übergewicht in Europa verschaffen zu wollen – »… aber es kommt zweitens anders, als man denkt!« Andererseits kündigte Breschnew den Abzug von 20 000 Mann aus der DDR an. Er versprach außerdem, die Zahl sowjetischer Mittelstreckenraketen im Westen der
Sowjetunion zu verringern, sofern in Westeuropa »keine zusätzlichen Mittelstreckensysteme stationiert werden«. Selbstverständlich ging er darüber hinweg, daß die Sowjetunion sich durch die drei Sprengköpfe auf jeder SS-20-Rakete ja gerade mindestens eine Verdreifachung ihres Potentials zu verschaffen im Begriffe stand. Kein Wort darüber, daß die SS-20-Raketen ihrer größeren Reichweite wegen auch von jenseits des Ural die alten Ziele in
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