Menschen und Maechte
auf das brennende Problem der Mittelstreckenwaffen, das er vormittags bereits
mit Genscher erörtert hatte. Auch dabei blieb er ohne Schärfe; es sei vernünftig, jetzt über die Mittelstreckenwaffen zu verhandeln, bevor die NATO ihren Beschluß fasse und ehe es zu SALT III komme.
Ich verwies auf die drei bis vier Jahre, welche die NATO für die Verhandlungen zur Verfügung gestellt hatte; daher sei ich nicht pessimistisch. Wir jedenfalls würden unseren Einfluß geltend machen, diese Verhandlungen zum Erfolg zu führen.
Abends in meiner Bonner Wohnung kamen wir in einem Gespräch unter vier Augen auf die Raketenfrage zurück; Gromyko zeigte mir auf einer Landkarte die sowjetischen Gebiete, die nach Moskauer Analyse von westlichen vorgeschobenen Nuklearsystemen erreicht werden können. Der Dezemberbeschluß der NATO mit seinem Verhandlungsangebot werde in Wirklichkeit den von der Sowjetunion am 6. Oktober angebotenen Verhandlungen die Grundlage entziehen. Ich zeigte ihm meine Landkarte, auf der völlig korrekt die vier Jahre später, im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zu stationierenden Pershing II etwa bis zur geographischen Länge Moskaus reichten; die auf seiner Karte eingezeichnete Reichweite der amerikanischen Raketen sei dagegen übertrieben. »Aber«, so fügte ich hinzu, »die tatsächlichen Reichweiten und vor allem die kurzen Flugzeiten sind schon schlimm genug.« Das gelte umgekehrt ebenso für uns; zur Illustration zeigte ich Gromyko meine zweite Karte, auf der die in Sibirien stationierten, nach Westen gerichteten SS 20 die ganze Bundesrepublik abdeckten – und die Flugzeiten seien auch in diesem Falle sehr kurz.
Es gab eine lange, sehr sachliche Unterhaltung über alle damit verbundenen Aspekte. Gromyko schien mir ernstlich beunruhigt; ich hatte jedoch den Eindruck, daß er auch meine tiefe Besorgnis ernst nahm. Er blieb dabei, der bevorstehende NATO-Beschluß werde die Grundlagen für Verhandlungen zerstören. Aber es kam mir so vor, als befriedige ihn dieses Festhalten an einer offenbar in Moskau festgelegten Linie innerlich nicht; er wirkte auf mich zum ersten Mal etwas ratlos. Zum Schluß fragte er mich, was er dem Generalsekretär sagen könne.
Ich antwortete, seit dem Mai 1978 hätte ich immer wieder versucht,
so durchsichtig, wie es mit Rücksicht auf das westliche Bündnis möglich sei, ihm und den übrigen Herren der sowjetischen Führung zu sagen, wozu die SS-20-Rüstung fast zwangsläufig führen werde; ich hätte alles darangesetzt, Überraschungen zu verhindern. Aber was die Nuklearfragen anlange, könne ich nicht als Wortführer des Westens auftreten. Deutschland sei keine Nuklearmacht. Man dürfe auch nicht versuchen, mich von der westlichen Allianz und von der amerikanischen Führung zu trennen. Meine Regierung werde alles tun, um die bevorstehenden Verhandlungen zum Erfolg zu führen; ich glaubte nicht, daß ein Beschluß über Gegenmaßnahmen die Verhandlungsgrundlagen zerstöre. Gerne käme ich im Frühjahr nach Moskau; ich wolle auch weiterhin das deutsch-sowjetische Verhältnis pflegen und ausbauen.
Beim Abschied war mir klar: die sowjetische Führung sah noch immer nicht die Situation, in die sie Westeuropa und Deutschland gebracht hatte. Sie sah deutlich ihre eigene Verwundbarkeit und machte die Perfektionierung ihrer eigenen Sicherheit zum alleinigen Maßstab ihrer Rüstungspolitik und ihrer Gesamtstrategie. Daß der Exzeß ihres eigenen Sicherheitskomplexes bei den westlichen Nachbarn zwangsläufig Angst auslösen mußte, verstand sie entweder nicht, oder sie nahm es in Kauf. Sie schien sich zu sehr darauf festgelegt zu haben, daß das Weiße Haus im westlichen Bündnis eine ähnliche, absolut dominierende Rolle spiele wie der Kreml im Warschauer Pakt und es deshalb im Kern nur darauf ankomme, mit den USA als dem einzig wichtigen Gegenpol gleichberechtigt und paritätisch zu Vereinbarungen zu gelangen. Carters Unterlassung, bei den SALT-Verhandlungen die Interessen der europäischen Verbündeten ins Spiel zu bringen, hatte die sowjetische Führung in ihrer Vernachlässigung der westeuropäischen Sorgen noch bestärkt. Jetzt sah sie, daß sie im Irrtum gewesen war, wenn sie im Anschluß an Wien geglaubt hatte, die SS-20-Rüstung sei für den Westen ohne größere Bedeutung. Am 6. Oktober hatte ihr Generalsekretär sein persönliches Prestige aufs Spiel gesetzt. Was blieb den Sowjets jetzt noch an Handlungsfreiheit?
Am 12. Dezember 1979 faßten die Außen- und
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