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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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mutig genug sind, solche Entscheidungen zu fällen. Dem Risiko, eine sich im nachhinein als unzureichend oder falsch herausstellende Entscheidung zu treffen, steht weder eine ausreichende Ausbildung noch ein entsprechender Anreiz gegenüber. Politische Funktionäre verlangen Verschärfung der Sanktionsmechanismen, Betriebsfunktionäre fürchten den Verlust ihrer Planstellen. Das letztere gilt natürlich auch für die staatlichen Behörden und ihre Funktionäre, die mit der Verteilung der erzeugten Waren befaßt sind. Was sich auf den unteren und mittleren Ebenen als insgesamt großes Beharrungsvermögen darstellt, äußert sich auf den oberen Ebenen auch in Form erheblicher ideologischer Widerstände. Diese Widerstände wenden sich gegen die Mobilisierung des materiellen Interesses des einzelnen und stellen ihm das allgemeine »soziale Interesse« gegenüber; sie behaupten, im Interesse der Stabilität der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung sei die Aufrechterhaltung des hergebrachten administrativen Zentralismus unerläßlich. Nur ein kleiner Teil aller am Wirtschaftsgeschehen beteiligten Personen engagiert sich für die Reformen, nämlich Teile der kulturellen und technischen Intelligenz. Eine positive Massenbewegung fehlt – selbst innerhalb der Partei. Gorbatschow hat nur unter deutlich erkennbaren Schwierigkeiten eine Reihe von Personen, die ihm ungeeignet erschienen, durch Beschluß des Zentralkomitees ersetzen lassen können. Er hat es gegenwärtig noch keineswegs mit einem reformfreudigen Umfeld zu tun.
    Dies mag der Hauptgrund dafür sein, daß der Gesamtumriß der erstrebten Wirtschaftsreform bisher noch nicht vorgelegt worden ist. Allerdings glaube ich eher, daß ein Gesamtkonzept in der
persönlichen Umgebung Gorbatschows bisher gar nicht erarbeitet wurde; es scheint, daß man sich vorerst damit begnügt, Entwicklungsanstöße in die richtige Richtung zu geben und für später auf pragmatischen Fortschritt zu vertrauen.
    Im Gespräch mit Andrej Gromyko im März 1987 sagte ich, daß ich die Etablierung größerer intellektueller Freiheit und die Zulassung von Kritik in der Sowjetunion mit Interesse verfolgte. Wenn sich aber nach drei oder vier Jahren über die Nichtverwirklichung der heute entstehenden ökonomischen Erwartungen Enttäuschung breitmachen sollte, so werde sich die befreite Kritik auch auf die unzureichende ökonomische Führung richten. »Ich fürchte, die Führung der Sowjetunion wird dann die Freiheit zur Kritik wieder einschränken.« Ich fragte Gromyko, ab wann er für die Masse der Konsumenten erstmals mit fühlbaren ökonomischen Verbesserungen rechne.
    Gromyko antwortete: »Wir sind optimistisch. Wir haben bisher das Potential des Sozialismus nicht voll genutzt. Der Idealfall wäre, es voll zur Geltung zu bringen. Heute wollen wir den Menschen reinen Wein einschenken. Dazu ist eine Umgestaltung der öffentlichen Meinung und der wirtschaftlichen Führung notwendig. Natürlich werden die Menschen in der Folge höhere Forderungen erheben. Wir bemühen uns, sie zu befriedigen. Aber weil die Forderungen weiter steigen werden, wird es auch nach fünf oder zehn Jahren Unbefriedigte geben. Wir sind vom zukünftigen Erfolg unserer Politik überzeugt …«
    Gromyko hielt sich, in sehr allgemeinen Begriffen, an Gorbatschows Grundlinie. Natürlich wird man von einem Außenpolitiker keine detaillierte wirtschaftliche Darlegung erwarten. Immerhin aber nahm ich seine sehr pauschale, für Gromyko übrigens ungewöhnlich optimistische Antwort als ein Zeichen dafür, daß auch im März 1987 im engeren Kreise der Führung von Partei und Staat noch kein weitreichendes Gesamtkonzept für die Umgestaltung der sowjetischen Volkswirtschaft beschlossen worden war.
    Die Unterhaltungen, die ich während des gleichen Besuches mit sowjetischen Fachleuten führte, haben diesen Eindruck verstärkt.
Ein alter Gesprächspartner seit über zwanzig Jahren, der frühere Botschafter in Bonn Valentin Falin, benutzte zum Beispiel den Begriff »Sozialistischer Markt«; aber die Bedeutung dieses Begriffs blieb mir unklar. Eine Professorin der Ökonomie sagte, die beabsichtigte Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur sei gar nicht sowjetspezifisch; es gebe in vielen Entwicklungsländern gleiche Aufgabenstellungen. Sie verwies auf die Ausbreitung der modernen Kommunikationstechnologien, auf die »technologische Revolution« im allgemeinen, auf den Übergang von der Güterproduktion zur Produktion von Dienstleistungen. Sie

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