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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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diesem Felde einen noch höheren Anteil am sowjetischen Bruttosozialprodukt kostet.
    Rüstungsabbau durch Vertrag – eine historische Chance
    Als Einstieg in den Prozeß der Rüstungsverminderung bietet sich für Gorbatschow das Feld der Mittelstreckenwaffen an. Hier gibt es zusätzlich einen starken strategischen Anreiz; denn inzwischen werden in Westeuropa amerikanische Mittelstreckenwaffen aufgestellt, die Ziele auf sowjetischem Boden mit nuklearen Sprengköpfen auslöschen können.
    Nachdem die in der Breschnew-Ära genährte Erwartung getrogen hat, mit Hilfe der SS-20-Raketen Westeuropa politisch unter Druck setzen und Angst und Psychose hervorrufen zu können, liegt es jetzt im strategischen Interesse der Sowjetunion, die westliche Gegendrohung zu beseitigen; aus diesem Grund scheint die heutige Sowjetführung sogar bereit, auf ihre gegen Westeuropa gerichteten Mittelstreckenwaffen ganz zu verzichten.
    Wenn es zu einem beiderseitigen Verzicht auf Mittelstreckenwaffen in Europa kommen sollte, so wäre dies für mich ein großer, wenn auch etwas später persönlicher Triumph. Denn der Vorschlag der beiderseitigen Null-Lösung, 1979 erstmals formuliert, stammt von mir; Breschnew hatte ihn 1980 und 1981 abgelehnt; Reagan hatte ihn 1981 akzeptiert. Die Sowjetunion wäre ohne westliche Nachrüstung zum Verzicht auf ihre Mittelstreckenraketen nicht bereit gewesen.

    Jetzt aber gibt es innerhalb des Westens Opposition gegen die beiderseitige Null-Lösung. Die von einigen europäischen und amerikanischen Politikern und Generälen vorgetragene Besorgnis, eine Beseitigung der Mittelstreckenraketen in Europa werde den Westen Europas der Gefahr eines konventionellen Angriffs ausliefern, ist allerdings nur schlecht begründet. Einige der strategisch denkenden Generäle im Westen, zum Beispiel der amerikanische General Bernard Rogers – im Frühjahr 1987 noch Oberbefehlshaber der NATO-Truppen in Europa –, und einige der militärisch denkenden Politiker im Westen, zum Beispiel Manfred Wörner, haben das Argument vorgebracht, eine totale Abschaffung von Mittelstreckenwaffen beraube den Westen der Möglichkeit, im Falle eines sowjetischen konventionellen Angriffs als erste kriegführende Partei nukleare Waffen zur Verteidigung einzusetzen. Zur Begründung dieser Besorgnis verweisen sie auf die zahlenmäßige Überlegenheit, über welche die Sowjetunion auf dem Felde konventioneller Streitkräfte in Europa verfügt.
    Das Argument hält näherer Prüfung nicht stand. Zum einen hat die behauptete zahlenmäßige konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in den letzten vierzig Jahren immer bestanden, ja sie war bis zur Aufstellung der Bundeswehr sehr viel größer. Das heutige Ausmaß zahlenmäßiger Überlegenheit war in gleicher Weise bereits vorhanden, als die Sowjetunion in den siebziger Jahren mit der SS-20-Aufrüstung begann und 1979 der westliche Nachrüstungsbeschluß eventualiter für die Zeit ab 1983 gefaßt wurde. Das Motiv der beteiligten westlichen Staatsmänner für die Nachrüstung war nicht etwa, die altgewohnten konventionellen Streitkräfte der Sowjetunion auszubalancieren, sondern vielmehr ihre neuen SS 20.
    Zum anderen wird das Ausmaß der heutigen sowjetischen konventionellen Überlegenheit vor allem von amerikanischer Seite oft übertrieben dargestellt. Ich war – auch früher als Verteidigungsminister – wegen der größeren Zahl sowjetischer konventioneller Truppen niemals wirklich besorgt, weil ich von dem hohen Kampfwert überzeugt war und bin, den die Bundeswehr im Falle eines Angriffs aus dem Osten an den Tag legen würde, und weil die Bundesrepublik – ebenso Frankreich und alle übrigen kontinentaleuropäischen
Allianzpartner – dem amerikanischen Beispiel der Abschaffung der Wehrpflicht nicht gefolgt ist. Wegen der Beibehaltung der Wehrpflicht stehen uns schnell mobilisierbare, militärisch vollausgebildete Personalreserven zur Verfügung; diese Reserven brauchen nicht über den Kanal oder über den Atlantik transportiert zu werden. Die westeuropäischen konventionellen Streitkräfte haben – dies fand ich unter anderem in meinem Gespräch mit Ustinow und Orgakow bestätigt – einen hohen Abschreckungswert; der Abschreckungswert würde noch erheblich gesteigert, wenn endlich die konventionellen französischen, deutschen und Benelux-Streitkräfte integriert würden. Auf jeden Fall reichen die vorhandenen Streitkräfte aus, um eine rationale Kremlführung von jedem Gedanken an einen

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