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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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»Lokalpatriotismus« herabgesetzt. Je weiter Öffnung und Demokratisierung gehen, um so drängender könnten die Nationalitätenprobleme der Sowjetunion werden; sofern sie nicht gelöst oder bewältigt werden, erscheint mir eine Rücknahme der heute eingeleiteten Öffnung zur Meinungsfreiheit durchaus denkbar.
    Diese Gefahr ist nach meinem Eindruck auf dem Felde der ökonomischen Reformen noch weit größer. Hier werden gegenwärtig Erwartungen geweckt, deren Erfüllung in absehbarer Zeit mir unwahrscheinlich vorkommt. Bisher hat sich für die Menschen im Betrieb, im Kaufhaus und auf der Straße – außer der Verknappung von Alkohol in jeder Form – tatsächlich noch gar nichts geändert. Sie durchstreifen die Straßen und die Geschäfte mit Einkaufstaschen und Plastikbeuteln in der Hand – für den Fall, daß es irgendwo zufällig etwas Brauchbares zu kaufen geben sollte; die Schlangen vor den Schuhgeschäften zum Beispiel erschienen mir 1987 nicht kürzer als 1980.
    Mit dem dreizehnten Fünfjahresplan ab Januar 1991 soll sich die Versorgung spürbar bessern, so wird es dem Volk versprochen. Voraussetzung dafür wäre, daß dieser Plan 1989 seine wesentliche und im Laufe des Jahres 1990 seine endgültige Ausgestaltung erhält. Im Gespräch mit sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern lassen sich aber gegenwärtig – 1987 – nur unzureichende Konzepte zur Erfüllung des Versprechens an die Konsumenten erkennen. Die ökonomische Diskussion in der Wirtschaftswissenschaft der Sowjetunion und unter den Wirtschaftsfunktionären sowie Gespräche beider Gruppen mit den politischen Funktionären verlaufen kontrovers, was an sich kein schlechtes, sondern ein gutes
Symptom ist; aber bisher wurden keine klaren Schlußfolgerungen gezogen. Vor allem setzt die analytische Kritik bis heute viel zu niedrig an, um zu konsequent durchgreifenden Konzeptionen gelangen zu können. Wo aber der gedankliche Entwurf fehlt, da kann – in einer auf das Schema von Anordnung und (oft schlampiger) Ausführung orientierten Gesellschaft – kein durchgreifender ökonomischer Erfolg erwartet werden.
    Die Aufgabe, vor der Gorbatschow steht, ist größer als diejenige, welche Lenin sich 1921 mit der »Neuen Ökonomischen Politik« stellte. Auch kann er weder zurückgreifen auf marktwirtschaftliche Erfahrungen, noch kann er an das materielle Eigeninteresse der Sowjetbürger appellieren. Letzteres ist zwar denkbar – und es wird vereinzelt tatsächlich an wirksam leistungsorientierte Einkommens-und Lohndifferenzierung gedacht –, aber es widerspräche aller bisherigen Gewohnheit und auch der bisherigen Ideologie. Deshalb ist Gorbatschow über den Appell an stärkere Arbeitsdisziplin und über die Verknappung des Alkohols noch nicht sehr weit hinausgegangen.
    Die Reformdiskussion hat ihren Schwerpunkt einstweilen in einem kleinen Bereich der Binnenwirtschaft, nämlich bei der Reorganisation der staatlichen Unternehmen (der »Sozialistischen Industriebetriebe«) und der Umstrukturierung der Moskauer Ministerien und Planungsbehörden; es gibt allein über zwanzig Ministerien für die verschiedenen Branchen der Volkswirtschaft. Außerdem ist von freier Vermarktung (bei freier Preisbildung) für einen kleinen Teil der Agrarproduktion die Rede, nämlich für die Produktion der Kolchosbauern auf ihrem »eigenen« Boden und für die »Überschußproduktion« der Kolchosen. Daneben wurde für die Industrie eine straffere staatliche Qualitätskontrolle eingeführt statt der bisher innerbetrieblichen; wahrscheinlich war die neue Qualitätskontrolle der Hauptgrund für den seit Ende 1986 konstatierten Abfall der industriellen Produktion. Alle diese Neuerungen gehen noch auf Andropow zurück, der seinerseits inspiriert war von Kossygin, von Professor Libermann und vom »Nowosibirsker Papier« aus dem Jahre 1982. Das ist aber schon fast alles.
    Der »Umbau« der Wirtschaft soll bereits Ende 1990 vollendet
sein. Wenn es bei den bisherigen, sehr fragmentarischen Entwürfen bleibt, dann ist eine kategorische Steigerung der ökonomischen Leistung der Sowjetunion vom Jahr 1991 an voraussichtlich Illusion.
    Schon die bisherigen, bescheidenen Entwürfe stoßen bei ihrer Verwirklichung auf ganz erhebliche Widerstände. Der Gesetzentwurf über den Sozialistischen Industriebetrieb will den Betrieben Entscheidungsfreiheit auf einer Reihe von Feldern geben (allerdings nicht bei den Investitionen); nur fehlen die »Kader«, das heißt die Leitungspersonen, die fähig und

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