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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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taktisch oder bürokratisch ziselierten Verlautbarungen vor, sondern er argumentiert in kraftvoller und zugleich sympathischer Weise; der Zuhörer kann seine Gedanken nachvollziehen und findet sie deshalb logisch.
    Chruschtschow hatte auf den Westen anmaßend und mehrfach sogar rüpelhaft gewirkt, Breschnew wirkte langweilig, Gorbatschow dagegen ist interessant. Solche Fähigkeit ist in der heutigen Zeit, in der die Meinung des Publikums, seine Sympathien und Antipathien weitgehend über den Bildschirm beeinflußt werden, von hohem Wert. Ohne diese Fähigkeit und ohne das Fernsehen hätten wahrscheinlich weder John F. Kennedy noch Charles de Gaulle ihre große Ausstrahlung weit über die eigene Nation hinaus erreichen können. Freilich genügt die Begabung zur guten Fernsehrede auf Dauer nicht; es müssen sich grundlegende Fähigkeiten und Eigenschaften damit verbinden: die Kraft zu Analyse und Urteil; der Mut, beides nicht nur auszusprechen, sondern daraus auch Konzeptionen zu entwickeln und tatsächlich Konsequenzen zu ziehen; die Fähigkeit zur Menschenführung; das realistische Augenmaß für das in einer konkreten Situation Machbare; schließlich Stetigkeit und Beharrlichkeit bei der Verfolgung der gesetzten Ziele. Und dies alles muß eingebettet sein in eine Aura sittlicher oder moralischer Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber der Welt.
    Ob und inwieweit der große Fernseh-Kommunikator Gorbatschow über diese grundlegenden Fähigkeiten verfügt, ist nach seiner bisherigen Amtszeit noch nicht endgültig zu beurteilen. Seine analytische Urteilskraft und sein Mut sind nicht zu bezweifeln; ob ausreichende innenpolitische und hier vor allem ökonomische
Konzeptionskraft damit einhergehen, auch Augenmaß und Beharrlichkeit beim »Bohren dicker Bretter« (Max Weber), das wird sich zeigen müssen. Vorerst allerdings erscheint mir sein Start atemberaubend. Sowjetfunktionäre, die ich seit Jahren kenne, reden vom »Neuen Denken«, wenn sie von »Umgestaltung« (Perestroika), von »Offenheit« (Glasnost), sogar von »Demokratisierung« sprechen, und man spürt, daß sie innerlich beteiligt sind. In den Zeitungen kommt Kritik zu Wort, bisweilen sogar Kritik an der Armee; die »Prawda« ist plötzlich interessant geworden, vor allem auch die »Literaturnaja Gazeta«; im Fernsehen gibt es kontroverse Diskussionen und Kommentare; Sacharow und andere Verbannte durften nach Moskau zurückkehren, und manchen Dissidenten (darunter auch manchen Juden) wird endlich die lang ersehnte Ausreise aus der UdSSR bewilligt. Das Ausmaß der Transparenz ist noch klein, wenn man es an der Meinungsfreiheit in den westlichen Demokratien mißt; aber der Anfang gibt vielen Sowjetbürgern Hoffnung auf Erweiterung und Steigerung. Die Intellektuellen und die Künstler sind bisher die stärksten Nutznießer der Veränderung, bei ihnen findet man die größten Hoffnungen – so auch unter den im Westen lebenden russischen Emigranten, die mit tiefer Seele an ihrem Lande hängen.
    Andere dagegen sind skeptisch oder sogar pessimistisch; sie erinnern sich an frühere Enttäuschungen. Das Verhalten der Führung nach dem schweren Reaktorunfall in Tschernobyl am 26. April 1986, das anfängliche Verschweigen und Beschönigen und die lange andauernde Verheimlichung der vielen Todesopfer und der Zigtausende von Evakuierten haben gezeigt, daß es auch für Gorbatschow leichter ist, die Forderung nach Transparenz zu erheben, als ihr konkret zu entsprechen. Ebenso wurde im gleichen Jahr das Ausmaß der Aufstände in Kasachstan verschwiegen.
    Schon lange sind in Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan und Kirgisistan – Gebiete mit immer noch beträchtlichem oder wieder wachsendem islamischem Einfluß – die Geburtenraten viel höher als im eigentlichen Rußland; sie sind auch schon seit langem eine Quelle der Beunruhigung für Moskau, ebenso wie die dortigen nationalistischen Bestrebungen nach größerer Autonomie. Es fällt
schwer zu glauben, daß Öffnung und Demokratisierung den nichtslawischen Nationalitäten in der UdSSR in gleichem Maße zugute kommen werden wie den Slawen, das heißt den Russen, Ukrainern und Weißrussen, welche zusammen nur noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Staates ausmachen (was besonders die Rote Armee verspürt). Gorbatschow hat sich öffentlich gegen den in Mittelasien, aber auch in Georgien und Armenien sowie im Baltikum zum Ausdruck kommenden Nationalismus gewandt, die »Prawda« hat ihn als

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