Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
spendete der Polizist ihr nur Trost. Es tat ihr gut, aber andererseits ließ es sie unbefriedigt zurück. Bei einem Familiendrama fürchteten die Eltern das Eingreifen der Polizei, aber sie verbanden auch Hoffnungen damit. Die Hoffnung, dass eine höhere Instanz die Probleme in die Hand nehmen würde, die sie nicht aus eigener Kraft lösen konnten.
Karen dachte nach, soweit ihre Medikation es zuließ. Sie hatte den Eindruck, dass Seb stets ein wenig komisch gewesen war, wenn er aus dem Theaterkurs zurückkehrte. Dass er aufgedreht war, ja, das konnte sie verstehen. Aber da war noch etwas anderes in seinen Augen, etwas, das sie nicht kannte. Eine … Entschlossenheit, die Bereitschaft, etwas Drastisches zu tun, falls es nötig war.
Sie erinnerte sich noch, was sie gedacht hatte, als es ihr zum ersten Mal aufgefallen war: Der Junge wird erwachsen.
Sie hätte nicht gedacht, dass er auf diese Weise erwachsen würde.
Karen erreichte die Einfahrt. Die dunklen Fichten schüttelten sich in den Windböen. Der Weg war nur auf den ersten Metern geteert, dann wechselte er zu harter, festgetretener Erde. Kies gab es keinen. Die Einfahrt ging kerzengerade hinein und machte erst ganz am Ende einen kleinen Schwung nach rechts. So war das Haus erst zu sehen, als sie direkt davor stand.
Es war eine kleine Villa, mit hohen Fenstern, verspielten Erkern und einem schönen, spitzen Dachgiebel. Ihre Wände waren schon länger nicht mehr gestrichen worden, alles in allem schien das Gebäude jedoch noch gut in Schuss zu sein. Die Fenster sahen sogar aus, als hätte man sie vor kurzem erneuert. Es gab eine Garage, deren offenstehendes Tor einen Blick auf einen teuren dunklen BMW gestattete.
Eine niedrige Hecke umgab das Haus, und die hölzerne Gartenpforte stand einladend offen. Karen passierte sie, als sie dort keine Klingel entdecken konnte. Bei den letzten Schritten sah sie nach oben, ob hinter einem der Fenster eine Bewegung zu erkennen war. Nichts. Sie hatte nicht gewusst, ob Poster zu Hause war, aber dass sein Wagen in der Garage stand, musste wohl bedeuten, dass sie Glück hatte.
Irgendwie spürte sie, dass sie hier richtig war. Dass hier jemand wohnte, der mit dem Verhalten ihres Sohnes etwas zu tun hatte. Hatte Philipp Poster seinen Schülern beigebracht, ihre Aggressionen auszuleben? Bereitete er sie so auf die Bühne vor? War dieser neugewonnene Mut der Auslöser für Seb gewesen, einen Ausweg aus einer Situation zu suchen, die ihn bedrückte? Oder hatte der Unterricht dafür gesorgt, dass Seb schlicht und ergreifend die Realität seines Lebens mit den Geschehnissen auf einer Bühne verwechselte? Immerhin war er noch ein Kind …
Karen drückte den einzigen Klingelknopf. Daneben stand lediglich der Name des Bewohners, kein Hinweis darauf, als was sich dieser eigentlich verstand.
Über ihr öffnete sich sofort ein Fenster, und ein gepflegter Mann sah heraus. Er trug einen dünnen Oberlippenbart und wirkte wie einer jener reifen Gentlemen, die man in alten Filmen manchmal sah. „Ja, bitte?“, fragte er, und er schaffte es, seine Stimme vollkommen frei zu halten von jeglichen Gefühlsäußerungen. Auch seine Miene wirkte höflich, ohne freundlich zu sein, taktvoll, aber unverbindlich.
„Mein Name ist Karen Freund“, spulte sie ihren Text ab. „Ich komme wegen meinem Sohn …“
„Wegen ihres Sohnes Seb“, sagte er in die lange Pause hinein, die sie machte. „So nennen Sie ihn doch, nicht wahr?“ Woher kannte er die häusliche Koseform? In der Schule war der Junge als Basti bekannt. „Einen Moment, ich komme hinunter. Es gibt keinen automatischen Türöffner, und ich könnte nicht behaupten, dass ich ihn vermissen würde.“
Philipp Poster öffnete rasch. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, von dem Karen vermutete, dass er maßgeschneidert war. Seine Schläfen waren genau dort grau, wo es attraktiv aussah, sein ebenfalls grauer Schnurrbart perfekt gestutzt, und jede seiner Bewegungen hatte etwas Einstudiertes an sich. Einen Teil von ihr beruhigte es, dass der Theaterlehrer ihres Sohnes keiner dieser jungen Wilden war, die mit ihren Urschrei-Theorien und ihrer antiautoritären Art den Kindern nur Flausen in den Kopf setzten. Diesem Mann hier war unmöglich zuzutrauen, einen Shakespeare zu inszenieren, bei dem die Darsteller nackt und fluchend über die Bühne hüpften. Er schien zu wissen, was sich gehörte, und für einen Moment kam ihr die Vorstellung, er könne Seb in irgendeiner Weise zu dieser furchtbaren Tat
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