Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
animiert haben, nur lächerlich vor. Vielmehr musste sie fürchten, dass ihr Sohn sich diesem Mann von Welt gegenüber nicht kultiviert genug benahm.
Doch dann kam ihre alte Skepsis wieder durch, und sie fragte sich, ob dieser Mann nicht vielleicht zu perfekt für die Welt war, in der sie lebten. Wenn sie in ihrer Schulzeit einen Lehrer wie diesen gehabt hätte, hätte sie sich vermutlich über ihn lustig gemacht. „Ich muss mit Ihnen reden“, begann sie.
„Diese Zeit nehme ich mir ausgesprochen gerne“, erwiderte Poster. „Wenn ich Sie die Treppe hinauf bemühen dürfte? Der Salon befindet sich im zweiten Stock – etwas unpraktisch, zugegeben, aber dafür genießt man von dort eine herrliche Aussicht über den Wald.“
Kaum waren sie die beiden Treppen nach oben gestiegen, wurde ihr ein Tee angeboten. Sie lehnte ab. Nicht, dass sie keinen Durst gehabt hätte, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Sie rechnete nicht damit, vergiftet zu werden, doch sicher war sicher. Immerhin hielt sie sich ganz alleine in einem fremden Haus auf, und niemand wusste, dass sie hier war.
Auf der Fahrt hierher hätte sie eigentlich genügend Zeit haben müssen, sich Fragen zurechtzulegen. Die Nachwirkungen der Medikamente allerdings hatten ihren Kopf in ein schwammiges Etwas verwandelt – mit einem solchen Hirn nachzudenken, war in etwa so, als versuche man einen Braten mit einem Gummimesser zu zerschneiden. Nun saß sie auf einer nach Jugendstil aussehenden Couch, deren hölzerne Lehnen in Schneckenformen ausliefen. Als sie den Tee ausgeschlagen hatte, hatte Poster ihr eine ungeöffnete Flasche eines französischen Mineralwassers nebst eines langstieligen Glases hingestellt, dazu einen Flaschenöffner.
„Es … hätte mich nur interessiert, was Sie in Ihrem Unterricht mit den Kindern anstellen“, setzte sie an. Sie mochte nicht, wie sich ihre Frage anhörte. Sie sollte nicht angriffslustig klingen. Noch nicht.
„Wir hatten einen Informationsabend“, sagte Poster leise ohne jeden Tadel.
Karen presste die Lippen aufeinander. Ja, das wusste sie. Sie hatte vorgehabt, daran teilzunehmen, doch da Holger an diesem Abend wieder einen seiner Anfälle gehabt hatte, war es ins Wasser gefallen.
„Sie waren verhindert“, bemerkte Poster, ehe sie reagieren konnte. „Das ist meine Schuld. Der Termin war viel zu kurzfristig angesetzt.“
„Nein, nein, ich …“
„Lassen Sie es mich erklären.“ Der Mann, der sich für eine halbe Minute hingesetzt hatte, erhob sich wieder und ging mit langsamen, wiegenden Schritten in dem Raum auf und ab. Dieses Zimmer hatte die Bezeichnung „Salon“ tatsächlich verdient. Es hatte etwas von einem Museum an sich. Obgleich nicht besonders geräumig, beherbergte es eine ansehnliche Sammlung antiker Möbelstücke und Kunstgegenstände. Bronzestatuen junger Tänzerinnen wetteiferten mit von üppigen Schnitzereien übersäten Kommoden um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Hinter all den Objekten war kaum eine Wand zu sehen, und nur Posters gutes Auge für visuelle Harmonien rette den Raum davor, überladen zu wirken wie ein Antiquitätengeschäft. „Beim Theaterspielen tut man mehr als sich nur eine Rolle wie ein Kostüm überzustülpen. Man wird ein anderer, und um dies zu ermöglichen“, er drehte sich graziös auf dem Absatz herum, beinahe wie ein Balletttänzer, „muss man die Rolle, die man spielt, in sich selbst finden. Den König in sich, den Bettler in sich, den Helden und den Bösewicht, die Jungfrau und die Hure – verzeihen Sie, letzteres meinte ich natürlich nicht im Zusammenhang mit den Kindern. Was bin ich für ein ungeschickter Redner, ach herrje!“
Karen räusperte sich die Kehle frei. „Mein Sohn war verändert, als er aus ihrem Unterricht zurückkam …“
„Verändert? Wirklich? Es freut mich außerordentlich, das zu hören. Das ist etwas, was die Lehrer anderer Fächer oftmals nicht vermögen. Einen Eindruck zu hinterlassen, Frau Freund, ist so beängstigend schwierig in unserer reizüberfluteten Zeit. Der Lohn, den ich für meine Theaterstunden erhalte, sind die Veränderungen, die ich an den Kindern beobachten darf. Wenn Menschen sich verändern, dann sind sie wach! Sie öffnen die Augen den Möglichkeiten, die das Leben für sie bereithält. Sie müssen wissen, Theater lernt man nicht für das Theater, sondern für das Leben.“
Karen Freund fixierte das Mineralwasser, eines der Gasbläschen im Inneren. Es wurde größer und löste sich schließlich, wirbelte
Weitere Kostenlose Bücher