Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
Angst vor Schlägen haben. In den Schubladen lagen scharfe Messer. Sie hätte ihm eines davon in die Hand drücken können und hätte doch gewusst, dass er es niemals gegen sie erhoben hätte. Tränen sammelten sich in ihren Augen – aus Furcht vor seiner Wut und gleichzeitig aus Rührung darüber, dass sie diesem jähzornigen, gewalttätigen Ehemann dennoch vertrauen konnte, dass sie sich in seiner Nähe trotz allem sicher fühlen durfte. Es war wie ein Wunder. Sie stand immer genau im Auge des Tornados. Er mochte sie anschreien und ihre Wohnung in Schutt und Asche legen, aber er würde sie in seinem Zorn niemals berühren. Ebenso wenig, wie er Seb jemals schlagen würde. Er focht Kämpfe gegen sich selbst aus, nicht gegen seine Frau oder seinen neunjährigen Sohn.
Wenn das Leben mit ihm eine Hölle war, dann eine Hölle, bei der ein Stück Dach herausgebrochen war, damit ein dicker, fetter Lichtstrahl aus dem Himmel hinein fallen konnte.
„Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen und einen Tee trinken?“, sagte Karen. Sie näherte sich ihm bis auf einen Schritt, fasste ihn jedoch nicht an. Es war wie eine stumme Übereinkunft zwischen ihnen, in solchen Situationen keinen Körperkontakt zu haben. Eine Art, ihren Respekt füreinander zu zeigen. Sie waren Profis, wenn es um seine Wutausbrüche ging. Sie hatten sie schon viele Male miteinander durchgestanden. Karen stufte sie als Krankheit ein und sah sich als seine medizinische Begleitung in diesen schlimmen Minuten.
Langsam wich er zurück, schlurfte durch den Flur. Seine Rage hatte ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht. Karen hoffte insgeheim, dass der Klimax sich bald einstellen würde, dass es vorbei sein würde, ehe Seb nach Hause kam. Sie war eine erwachsene Frau und konnte damit umgehen, aber auf ihren Sohn musste es früher oder später einen schlechten Einfluss haben. Seine Noten waren ohnehin nicht die besten, und er war ein stilles, etwas verstörtes Kind. Ein paar Schritte weiter auf der Zerrüttetes-Elternhaus-Leiter, und er wurde vielleicht ein Therapiefall.
Im Wohnzimmer knallte Holgers Faust gegen die Wand. Kein Bild fiel mehr von der Wand. Die Zeit, in der sie sich den Luxus geleistet hatten, bei jedem seiner Anfälle einen Bilderrahmen einzubüßen, war vorbei. Karen wünschte sich, er hätte sich auf die große, weiche Couch geworfen, ein paar Mal darauf eingeschlagen und sich ausgeweint. Stattdessen trat er mit voller Wucht gegen den Tisch und warf ihn um. Blumen in einer Plastikvase wurden heruntergeschleudert. Ein Wasserfleck auf dem Teppich. Kein Problem.
„Warum musst du immer das tun, wovon du weißt, dass ich es nicht will?“, knurrte er mit knirschenden Zähnen. „Warum? Warum? Warum?“
„Weil es manchmal notwendig ist“, antwortete sie ruhig. „Und weil wir auch Menschen sind, Seb und ich. Weil wir nicht unser Leben lang nur Rücksicht nehmen können.“ Wenn er schon nicht zu beruhigen war, dann konnte sie auch sagen, was sie dachte. Es würde es nicht schlimmer machen. Noch immer hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er es eines Tages verstehen würde. Er war nicht dumm. Nur jähzornig, schlecht ausbalanciert. Wenn das alles vorbei war, würde sie ein wenig mit ihm kuscheln, vielleicht sogar Sex mit ihm haben. Das beruhigte ihn und stellte die Intimität zwischen ihnen beiden wieder her. Natürlich konnte sie das nicht tun, solange er in dieser Verfassung war. Es durfte keine Berührungen geben. Ihre Körper waren heilig, unantastbar.
Holger ging zum Wohnzimmerschrank, riss die Türen auf, stierte hinein. In einem der Fächer herrschte Leere, im anderen lagen ein paar Dinge, ein Aschenbecher aus Metall für Gäste, Bücher, eine Schachtel Kekse. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er nichts von Bedeutung fand. Seine Wut verwandelte sich in Ohnmacht, Verzweiflung, und Karen spürte, dass er kurz davon stand, seine Emotionen gegen sich selbst zu richten. Was immer er mit sich anstellte, sie war dazu verdammt, ihm tatenlos dabei zuzusehen.
Ein klapperndes Geräusch ließ sie beide zusammenfahren. Die Wohnungstür! Das bedeutete, Seb war nach Hause gekommen.
Eilig schloss Karen die Wohnzimmertür, in der Hoffnung, dass er sie nicht hören und erst einmal auf sein Zimmer gehen würde, um sich umzuziehen oder, besser noch, ein Comic zu lesen. Am besten ein Lustiges Taschenbuch. 250 Seiten.
Holger machte ihre Hoffnung zunichte, indem er brüllte: „Unsere Wohnung ist leer und nutzlos! Wie
Weitere Kostenlose Bücher