Menschenhafen
nicht gelähmt, er hatte sie selbst gestoppt. Die Atemluft belebte die Geschmacksnerven, und er war Wermut. Es schmeckte so grauenvoll, dass es kein Geschmack mehr, sondern ein Zustand war. Er stützte sich auf die Werkbank und zog sich an ihr hoch.
Ich bin Wermut.
Die Kugel in seiner Brust war verschwunden. Sie hatte sich in den widerwärtigen Geschmack eingekapselt, war geschrumpft und verschwunden. Er blinzelte und blinzelte dann nochmals, versuchte den Blick zu schärfen. Ihm fiel ein Stück Seil ins Auge, dessen Ende zerfasert war. Er beleuchtete es mit seiner Lampe und sah jede einzelne Faser. Es waren siebenundfünfzig Fäden.
Siebenundfünfzig. So alt war mein Vater, als er starb. So viele Schrauben und Dübel gab es in dem Schrank von IKEA, den Cecilia und ich für das Schlafzimmer kauften. So viele Zentimeter, wie Maja im Alter von zwei Monaten groß war. So lang …
Die Konturen aller Dinge, die das Auge der Taschenlampe sah, waren gleichzeitig verwischt und überdeutlich. Er sah die Dinge nicht, er sah, was sie waren . Er streckte die Hand nach der Rolle mit den Plastiksäcken aus, und es waren noch acht Stück auf der Rolle, und insgesamt würden sie eintausendsechshundert Liter aufnehmen können.
Eintausendsechshundert Liter Dinge. Blätter, Zweige, Spielzeuge, Farbdosen, Werkzeuge, Grammofone, Brillen, Tannenzapfen, Mikrowellen. Eintausendsechshundert Liter Dinge …
Als er nach der Rolle griff, fand er einen ruhenden Punkt in seinem Kopf, einen Stein im Strom, auf dem er stehen und klar denken konnte, während alles an ihm vorbei- und durch ihn hindurchfloss.
Nimm die Säcke. Geh zum Haus.
Das tat er. Während sich die Welt weiter löste, auflöste und ihn durchströmte, stand er auf dem Stein und sah seine Hände Simon helfen, Elins Leiche für ihre letzte Reise in Plastik zu hüllen. Danach ermattete die Wahrnehmung, und er begann zu frieren.
Anders kauerte sich möglichst weit von dem Plastikbündel entfernt im Bug zusammen. Simon musste die Füße unter Elins Schenkel schieben, um an der Pinne Platz zu finden.
Dass er das über sich bringt.
Simons Lippen waren zusammengepresst und seine Stirn gerunzelt, als wäre er die ganze Zeit über hochkonzentriert. Aber er tat es. Anders erkannte, dass er dankbar sein sollte, fühlte sich zu Gefühlen dieser Art jedoch nicht fähig. Die Welt war wie das Seil im Schuppen zerfasert worden.
Simon warf den Motor an, und sie entfernten sich von Domarö, umrundeten Norrudden und nahmen Kurs auf die Durchfahrt zwischen Kattholmen und Ledinge. Es wehte ein schwa cher Wind, und Anders schaute zum Horizont, während die aufgehende Sonne seine Wangen wärmte.
Etwa zehn Meter vor dem Bug hob eine Möwe vom Wasser ab und schwang sich mit einem Schrei in die Höhe. Anders’ Augen folgten ihr, und er sah sie die Sonne kreuzen und nach Gåvasten davonfliegen.
Vater …
Wie oft hatte Anders frühmorgens auf dem Boot seines Vaters im Bug gelegen, wenn die Sonne aufging und sie zur Auslegestelle fuhren, um die Netze einzuholen? Vierzig? Fünfzig Mal?
Vater …
Es war lange her, dass er so eingehend an seinen Vater gedacht hatte. Mit der fliehenden Möwe und der aufgehenden Sonne kehrte alles zurück. Auch jenes eine Mal.
Jenes eine Mal …
Heringsfischerei
In jenem Sommer, in dem Anders zwölf war, sparte er auf ein ferngesteuertes Boot. Er hatte es in einem Spielzeuggeschäft in Norrtälje gesehen und sich von dem tollen Bild auf der Verpackung verführen lassen. Der weiße Schiffsrumpf, der über das Wasser schoss, die blauen Tempostreifen an den Seiten. Dreihundertfünfzig Kronen sollte es kosten, und er wollte es haben, bevor der Sommer vorbei war.
Das lag durchaus im Bereich des Möglichen. Sein Vater und er legten zweimal in der Woche Netze aus, und anschließend verkaufte Anders den Fisch vor dem Lebensmittelladen. Sechs Kronen kostete das Kilo, und er bekam die Hälfte. Das Boot entsprach folglich einhundertsiebzehn Kilo Heringen, hatte er sich ausgerechnet. Dann würde er sogar noch eine Krone übrig haben.
Nun war er allerdings kein Dagobert Duck, der jede einzelne Krone sparte, die er verdiente, aber einhundertneunzig Kronen hatte er schon zusammen. In den Netzen waren in der Regel dreißig bis vierzig Kilo, aber da der Juni sich dem Ende zuneigte, und die Heringsschwärme sich langsam, aber sicher aufs offene Meer zurückzogen, wurden es mit jedem Mal weniger. Es fehlten ihm immer noch gut fünfzig Kilo verkaufter Fisch, und sie würden
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