Menschenhafen
konnte Gas geben, volle Kraft zurück einstellen und die Pinne drehen, wenn er es wollte, aber tat er das?
Nein, nein.
Langsam und vorsichtig passte er seinen Kurs und das Tempo so an, dass es für seinen Vater möglichst einfach war, das Netz herauszuziehen. Das konnte Anders. Er war der Kapitän.
Er lehnte sich über den Bootsrand und blickte in das dunkle Wasser hinab. Meistens konnte man auf dem Weg zur Oberfläche genug von dem silbrigen Glänzen sehen, um beurteilen zu können, wie groß der Fang ausfallen würde. Anders schaute und runzelte die Stirn.
Was ist denn das? Ist das möglich …
Was sich dort aufwärtsbewegte, war nicht das verstreute, metallische Schimmern einer bestimmten Anzahl von Heringen, nein, es sah eher aus, als hätten sie an diesem Morgen einen einzigen, gigantischen Hering in ihrem Netz gefangen, eine kompakte Masse, die zum Boot hinaufgezogen wurde.
Sein Vater hatte aufgehört, am Netz zu ziehen, stand re gungslos im Bug und starrte ins Wasser hinab. Anders spähte in die Tiefe und erkannte, dass der scheinbar so solide Körper in Wahrheit aus einzelnen Heringen bestand. Es war ein Rekordfang, der all seine Erwartungen übertraf. Sein Herz schlug schneller.
Das sind mindestens fünfzig Kilo. Vielleicht sogar noch mehr. Kann man so viel verkaufen?
Er wartete darauf, dass der Fang näher kam, damit er besser sehen konnte, aber es geschah nichts. Sein Vater stand noch immer im Bug, das Seil hing lose in seinen Händen.
»Was ist los?«, fragte Anders. »Das sind doch total viele!«
Sein Vater wandte sich ihm mit einem Gesichtsausdruck zu, den Anders nicht verstand. Er sah … verängstigt aus. Verängstigt und besorgt. Anders schüttelte den Kopf.
»Willst du es denn nicht rausziehen?«
»Ich glaube, das … sollten wir vielleicht lieber lassen.«
»Aber warum denn? Das ist doch ein neuer Rekord! Das sind jede Menge Fische!«
Sein Vater ließ das Seil mit einer Hand los und zeigte auf die Meeresoberfläche. »Fühl mal das Wasser.«
Anders folgte seiner Aufforderung und tauchte eine Hand ins Wasser. Er zog sie blitzschnell zurück. Das Wasser war eiskalt. Er blinzelte und streckte die Hand wieder vorsichtig aus. Es kribbelte in den Fingerspitzen und das Wasser war so kalt, dass es kurz vor dem Gefrieren war.
Wie ist das möglich?
Fragend sah er seinen Vater an, der ins Wasser starrte, als suchte er dort nach etwas. Anders schaute sich um. Es deutete nichts darauf hin, dass ein plötzlicher Wintereinbruch drohte. Die einzig mögliche Erklärung war eine ungewöhnlich kalte und starke Strömung. Oder?
»Warum ist es so kalt?«
Sein Vater seufzte schwer. Das Seil begann, seinen Händen zu entgleiten.
»Papa!«
Das Seil stoppte. »Ja?«
»Wir müssen es doch rausziehen, oder nicht?«
Sein Vater wandte den Kopf der Sonnenstraße zu und sagte leise: »Und warum?«
Die Frage verwirrte Anders und machte ihm ein wenig Angst. Er stammelte: »Na, weil es … weil es so viele sind, und du weißt doch, das Boot, auf das ich spare, das sind doch … und … und davon, dass wir es hierlassen, wird die Sache auch nicht besser, oder?«
Der Vater wandte sich jetzt erneut Anders zu, nickte bedächtig und erklärte: »Nein, das wird es wohl nicht. Da hast du allerdings recht.«
Er holte das Netz weiter ein, und seine Kiefermuskeln arbeiteten, als würde er auf etwas kauen, das sich nie herunterschlucken lassen würde. Anders wusste nicht, was passiert war, was er gesagt hatte, war aber erleichtert, dass seine Worte Wirkung zeigten. Der Fang würde eingeholt werden.
Abgesehen von dem Problem, das Anders nicht verstand, war es für seinen Vater auch so schon schwer genug, einen solch riesigen Fang aus dem Wasser zu ziehen. Anders steuerte das Boot, so folgsam es ging, aber das Netz, das sein Vater in den Bug zog, war kein Netz mit einzelnen Fischen, sondern ein dickes Kabel aus Silber, eingekapselt in die Maschen des Netzes.
Als das ganze Netz im Boot war und sie den Anker eingeholt hatten, ging sein Vater schweigend zum Motor und legte die Hände auf die Zylinderkopfdichtung.
»Was tust du da?«, fragte Anders. Während des letzten Teils ihrer Ausfahrt hatte sich sein Vater seltsam benommen, und auch das war neu.
Sein Vater lächelte blass. »Ich wärme meine Hände.«
Anders nickte. Natürlich. Das war immerhin mal verständlich. Das Wasser war kalt – man bekam kalte Hände. Er entfernte sich von der Pinne, um sich den Fang anzusehen. Er war zwar kein Experte, aber das
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