Menschenhafen
ihre Netze wahrscheinlich nur noch zweimal auslegen können.
Das Erste, was Anders an diesem Morgen nach dem Aufwachen dachte, war denn auch: fünfzig Kilo.
Er stand auf und suchte seine Fischermontur aus der untersten Kommodenschublade. Schon der Geruch hätte seine Mutter wahnsinnig gemacht. Jeans und Pullover waren mit alten Schuppen und erstarrtem Rogen übersät und verströmten einen ähnlichen Geruch wie getrocknete Fischhappen, die man Hunden zum Fraß vorwarf.
Als Letztes setzte er seine Kappe auf. Eine Reklamekappe der Werft von Nåten, auf der sein Vater arbeitete, die ebenfalls so voller Schuppen und hart gewordenem Heringsmatsch war, dass ein Hund sie wahrscheinlich gegessen hätte, wie sie war.
Anders mochte seine Ausrüstung. Wenn er sie anzog, war er nicht mehr irgendein Anders, sondern Anders, der Sohn des Fischers. Dieses Gefühl konnte er mit seinen Freunden aus der Stadt nicht teilen, und er achtete stets darauf, sich umzuziehen, ehe er sich vor den Laden setzte. Aber morgens, wenn die anderen noch schliefen, war er der Sohn seines Vaters, der Sohn des Fischers, und das gefiel ihm.
Es war ein schöner Morgen. Anders und sein Vater saßen sich am Küchentisch mit Kakao beziehungsweise Kaffee gegenüber und blickten auf die spiegelglatte Förde hinaus. Die ersten Sonnenstrahlen wurden vom Reflektor in Gåvastens Leuchtturm zurückgeworfen. Einzelne dünne Wolken trieben am Himmel wie Schwanendaunen auf einer Pfütze.
Sie aßen jeder ein belegtes Brot und leerten ihre Tassen. An schließend zogen sie die Schwimmwesten an und gingen zum Boot hinunter. Sein Vater kurbelte den Motor an, der beim ersten Ruck ansprang. Anfang des Sommers hatte Anders darum gebeten, es auch einmal versuchen zu dürfen, und war vom Rückstoß in der Kurbel erschreckt worden, als der Motor nicht ansprang. Seither überließ er es seinem Vater, den Motor anzulassen.
Schönes Wetter. Der Motor ist sofort angesprungen. Ein gutes Zeichen. Fünfzig Kilo.
Er wusste, dass sie keine fünfzig Kilo an diesem Tag fangen würden, das hatte er nur einmal erlebt, im letzten Sommer, doch das war Anfang Juni gewesen. Aber dreißig. Ja, dreißig. Von jetzt an würde er jede einzelne Krone sparen.
Sie umrundeten Norrudden und gelangten in die Sonnenstraße auf der Förde von Ledinge, wo sie eine Brise aus östlicher Richtung erfrischte. Die noch tief stehende Sonne hatte sich soeben von den Fichtenwipfeln auf Ryssholmen losgerissen und jubelte befreit ihr Licht auf das schwach gekräuselte Meer. Anders saß an der Reling und ließ die Finger durchs Wasser schleifen. Es war schon warm genug, um schwimmen zu gehen, die Temperatur schwankte je nach Windrichtung zwischen siebzehn und neunzehn Grad.
Anders ging in den Bug, legte sich bäuchlings auf das sonnenwarme Holz und spähte zur Auslegestelle im Gatt zwischen Ledinge und Ledingeskäret. Wenn er die Augen zu Schlitzen verengte, glaubte er die Flagge erkennen zu können, mit der sie die Position ihres Netzes markiert hatten.
Das sanfte Tuckern des Motors machte ihn schläfrig, weshalb er sich die Augen rieb und an das ferngesteuerte Boot dachte. Wie weit konnte es hinausfahren, bis es den Kontakt zur Fernbedienung verlor? Fünfzig Meter? Hundert? Wie schnell war es? Wahrscheinlich jedenfalls schneller als Papas Boot , dachte er, während sie zum Gatt glitten.
Anders verlor sich noch immer in Rennfahrerfantasien, als sein Vater den Motor drosselte. Das Tuckern ging in ein Klackern mit immer längeren Abständen zwischen den einzelnen Stößen über. Sie näherten sich der Flagge. Als sein Vater »Hör mal, Kapitän!« rief und den Leerlauf einlegte, kam Bewegung in Anders.
Er sprang herab und trottete zum Ruder, während sich sein Vater zum Bug bewegte. Ihre Wege kreuzten sich, als sie links und rechts am Motor vorbeigingen. Das machten sie nicht zum ersten Mal. Anders’ Vater lächelte und meinte: »Jetzt schön langsam und ganz vorsichtig.«
Anders machte eine Miene, die Mach ich das etwa zum ersten Mal? sagte, und setzte sich an die Ruderpinne.
Seinem Vater gelang es, die Flagge zu packen, und er holte sie ein und griff nach dem Tau. Anders tippte den Hebel für den Rückwärtsgang leicht an und legte ihn ein, bis das Boot vollkommen still lag. Als sein Vater das Netz einzuholen begann, tippte er den Hebel wieder nach vorn, damit das Boot der Lage des Netzes folgte. Das war der Moment, der ihm an ihren morgendlichen Fahrten am besten gefiel. Wenn er das Steuer übernahm. Er
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