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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Simon spürte, dass er kurz davor stand, sich zu übergeben. Er atmete mehrmals tief durch und rieb sich mit den Fingerspitzen über die Augen.
    Beruhige dich. Das hast du gewusst.
    Trotzdem war er unfähig, still zu stehen, als das Insekt beinahe seinen Fuß erreicht hatte. Er floh in den Flur und setzte sich auf die Seemannskiste, in der er seine Regenkleider verwahrte, presste die Hände gegen die Schläfen und versuchte die Situation nüchtern zu überdenken. Der körperliche Ekel klang allmählich ab, der Geschmack war nicht mehr ganz so intensiv.
    Das Insekt kroch über die Türschwelle der Küche, kam auf ihn zu. Es hinterließ eine dünne Schleimspur. Simon wusste Dinge, die er fünf Minuten zuvor noch nicht gewusst hatte. Ihm war Wissen injiziert worden.
    Was er als Geschmack in seinem Körper wahrnahm, witterte das Insekt als Geruch. Es würde ihn aufspüren, ihm folgen, bis es bei ihm sein durfte. Das war sein einziges Ziel. Bei ihm zu sein …
    bis dass der Tod uns scheidet
    … seine Kraft mit ihm zu teilen. Er wusste es. Mit seinem Speichel hatte er einen Pakt geschlossen, der nicht gebrochen werden konnte.
    Es sei denn …
    Ja, es gab einen Ausweg. Doch das war nichts, was in diesem Moment von Belang war, in dem das Insekt wieder auf seinen Fuß zukroch. Jetzt gehörte es ihm. Für immer, bis auf Weiteres.
    Er machte einige schnelle Schritte an dem Insekt vorbei, das augenblicklich die Richtung änderte, und holte die Streichholzschachtel vom Küchentisch. Er stülpte die Box über den schwarzen, kriechenden Körper und schob die Schachtel vorsichtig zu. Der Reklamejunge auf dem Etikett strebte einer glänzenden Zukunft entgegen, und Simon wog die Schachtel in der Hand.
    Gegen die Übelkeit ankämpfend kniff er die Lippen zusammen, als sich das Insekt in der Schachtel bewegte, und spürte die Wärme des Tiers an seiner Handfläche. Ja. Es war warm. Es ging ihm gut, es hatte Nahrung und einen Besitzer bekommen.
    Er steckte es in die Tasche.

ÜBER SMÄCKET
    Denn Fohlen, die weder Sporen noch Peitsche vertragen,
    finden das Leben schwierig. Jeder Schmerz, der
    sie ereilt, lässt sie durchgehen, auf wilden Wegen hin
    zu gähnenden Abgründen.
    SELMA LAGERLÖF – DIE GESCHICHTE VON GÖSTA BERLING
    Farn (Oktober 2006)
    Den Ausschlag hatte der Farn gegeben.
    Anders hatte ihn zwanzig Minuten angestarrt und währenddessen zwei Zigaretten geraucht. Er betrachtete den Farn durch einen Schleier aus Rauch und Staubpartikeln, die sich in schmutzigem Sonnenlicht drehten. Das Fenster war schon lange nicht mehr geputzt worden, und unregelmäßig verteilte Fettabdrücke befleckten die Glasfläche, Spuren der zahlreichen Abende, an denen Anders mit der Stirn gegen das Glas gelehnt gestanden, auf den Parkplatz hinabgesehen und darauf gewartet hatte, dass etwas passieren würde, das eine Veränderung herbeiführen konnte. Irgendetwas, ganz gleich was, ein Wunder.
    Der Farn stand auf der Fensterbank über dem Heizkörper. Ein langer Zweig wedelte in der aufsteigenden Warmluft. Die Blätter waren klein und braun, vertrocknet.
    Anders zündete sich eine weitere Zigarette an, um schärfer denken zu können, vielleicht aber auch als Belohnung dafür, dass er einen richtigen Gedanken, einen klaren Gedanken zustande gebracht hatte. Seine Augen brannten vom Rauch, er hustete und musterte weiter den Farn.
    Er ist tot.
    Die meisten Zweige klebten, hellbraun bis rötlich, an der Wand des Blumentopfs. Die Erde, in der die Pflanze stand, war so trocken, dass sie fast weiß aussah. Anders nahm einen tiefen Zug und versuchte sich zu erinnern: Wie lange hatte der Farn so ausgesehen, wie lange war er tot gewesen?
    Er durchforstete seine Erinnerung auf der Suche nach früheren Tagen und Abenden, an denen er auf der Couch gesessen hatte oder durch die Wohnung gewankt war oder am Fenster gestanden hatte. Sie verschwammen zu einem Nebel, und er war unfähig, durch den Dunst einen vertrockneten Farn zu sehen. Als er genauer überlegte, konnte er sich nicht einmal erinnern, wann er den Farn angeschafft hatte, warum er überhaupt auf die Idee gekommen war, eine lebende Pflanze zu kaufen.
    Hatte er sie geschenkt bekommen?
    Möglich.
    Er stand von der Couch auf, seine Beine trugen ihn nicht richtig. Er überlegte, eine Flasche mit Wasser zu füllen und den Farn damit zu gießen, wusste jedoch, es stand so viel schmutziges Geschirr in der Spüle, dass er die Flasche nicht unter den Hahn halten können würde. Im Waschbecken ließ sich die

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