Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
Vom Netzwerk:
unseren blinkenden Lichtern.
    Er hatte in seiner Einfalt geglaubt, der Leuchtturm hätte etwas mit der Sache zu tun gehabt. Das gespenstisch blinkende Auge auf dem nächtlichen Meer hatte ihn dazu verleitet. Aber was war schon ein Leuchtturm? Eine menschliche Erfindung aus Holz und Stein. Ein Gebäude mit einer Lampe, mehr nicht. Die Lampe konnte gelöscht werden, und das Gebäude verwittern, aber die Tiefe …
    Die Tiefe blieb.
    Die Erkenntnis glitt aus ihm heraus wie eine Welle, die sich vom Ufer zurückzog, und er lag nur noch von theoretischem Wissen erfüllt auf dem Fußboden. Die Rinnsale des Gifts wurden schwächer in seinem Blut, und er atmete tief ein und aus, ein und aus. Er rollte auf die Seite und ließ den Blick über die Kritzeleien auf den gekalkten Innenwänden des Leuchtturms schweifen.
    »FRIDA WAS HERE 21. 6. 98«
    ›J ® M‹
    ›When in trouble, when in doubt
    Run in circles, scream and shout‹
    »JUNGS AUS NÅTEN = IDIOTEN«
    Ein Satz war mit größeren und deutlicheren Buchstaben geschrieben als die meisten anderen. Anders glaubte sich zu erinnern, ihn bei seinem letzten Besuch gesehen, aber nicht weiter beachtet zu haben. Jetzt stach er ihm ins Auge.
    Unter dem Datum 28. 1. 89 stand:
    »SELTSAME WEGE, JETZT KOMMEN WIR.«
    Henrik und Björn waren irgendwann um diese Zeit verschwunden. Strangeways, here we come lautete der Titel des letzten Albums von The Smiths.
    Hier hatten sie also gesessen und mit einem Kugelschreiber diese letzte Nachricht verfasst, fast eingeritzt und sich anschließend … auf den Weg gemacht. Auf seltsamen Wegen.
    Sie wussten es. Sie wussten, was sie taten.
    Anders rappelte sich auf und rannte die Treppen hinunter.
    »Ich krieg euch, ihr Schweine! Ich weiß, wo ihr euch versteckt, und ich werd euch schon noch schnappen! Irgendwie, ich schwöre es bei Gott, werde ich sie holen!«
    Anders stand auf den Felsen im Osten und schrie gegen Meer und Wind an, schrie mit den Vögeln um die Wette, die wie ein riesiger Vorhang vor seinem Gesicht vorbeiglitten, und seine Arme waren zu kurz, sein Wissen zu kärglich, um ihn zu lüften. Aber er würde es noch tun. Irgendwie würde es ihm noch gelingen.
    Er schrie weiter und drohte dem Meer, bis er heiser und seine Wut verraucht war.
    Als er wieder zur Besinnung kam, sah er, dass die Vögel näher gekommen waren. Fast alle Schellenten, Stockenten und Schwäne hatten sich auf der Wasserfläche an Gåvastens Ostseite versammelt. Sie lagen direkt vor ihm und schaukelten im Takt der Wellen. Tausende von Vögeln und so dicht gedrängt, dass es aussah, als könnte man auf ihren Rücken hundert Meter ins Meer hinauswandeln. Die Möwen umkreisten die Insel nicht mehr, sondern flatterten stattdessen direkt vor ihm in einer einzigen weißen Wolke, die aus dem Meer aufzusteigen und auf die Stelle zuzutreiben schien, an der er stand.
    Jeden Moment konnte sie ein vernehmbares oder lautloses Kommando erreichen, und er würde in einem Schwarm aus hackenden und reißenden Schnäbeln ertrinken.
    Sie verstehen. Ich muss hier weg.
    Langsam, Schritt für Schritt, ging er rückwärts zum Boot, ohne die Vögel aus den Augen zu lassen. Wenn sich andeutete, dass sie ihn angreifen wollten, hatte er immer noch die Chance, es in den Leuchtturm zu schaffen, ehe sie ihn zerfetzten, solange er sie sorgsam im Auge behielt.
    Die Flechten machten die Felsen auf dieser Seite spiegelglatt, und einmal rutschte er aus. Dennoch blieb sein Blick auf die Vögel gerichtet, und es versetzte ihm einen scharfen Stich in der Hüfte, ehe es ihm gelang, den Fall zu stoppen.
    Der Möwenschwarm war näher gekommen und bewegte sich über die Felsen im Osten hinweg, während er, ohne auf seine Hände zu schauen, die Leine losmachte und das Boot mit dem Rücken ins Wasser schob. Die erregten Schreie der Möwen zerschnitten den Luftraum und hallten so in seinem Kopf wider, dass vernünftiges Denken unmöglich war. Für ihn gab es nur noch eins: Schieb das Boot raus. Fahr weg.
    Das Boot kam frei, und er ging rückwärts ins Wasser hinaus und drückte sich mit einem Fuß vom Grund ab, während er gleichzeitig an Bord stieg. Das Boot glitt einige Meter von der Insel weg. Jetzt konnte er nicht mehr zum Leuchtturm hinauf. Er wagte es nicht, den Möwen den Rücken zuzukehren, um den Motor anzulassen, weshalb er nach einem Ruder griff und abwechselnd links und rechts rückwärtspaddelte wie ein Gondoliere.
    Als er sich gut hundert Meter von Gåvasten entfernt hatte, beruhigten sich die

Weitere Kostenlose Bücher