Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
Vom Netzwerk:
letzten, ehe ihm die Luft ausging, streckte den Arm aus und bekam den Stoff auf Mårtens Rücken zu fassen.
    Er hatte sogar noch die Geistesgegenwart, sich zur Seite zu drehen, ehe er zur Oberfläche aufstieg. Er fuchtelte mit dem freien Arm, machte möglichst kraftvolle Schwimmzüge mit den Beinen und presste Mårten aus dem Wasser, als würde er einen Siegerpokal anheben, ehe er ihm folgte und in kurzen, keuchenden Atemzügen nach Luft schnappte.
    Ihre Köpfe tauchten nur einen Meter vom Metallrumpf des Zubringerboots entfernt auf. Er hörte nichts mehr, es war, als hätte er Eispfropfen in den Ohren. Am Himmel über ihm wimmelte es von lautlosen Möwen.
    Mårtens Schneeanzug hatte sich mit Wasser vollgesogen und wollte sie beide in die Tiefe ziehen, aber Arvid klammerte sich an einen der Traktorreifen, die am Rand des Schiffsanlegers hingen, zog sich vorwärts und griff nach dem nächsten Reifen. Als er die Ecke des Anlegers erreichte, hörte er, dass jemand von weit her nach ihm rief, achtete aber nicht weiter darauf. Er hielt Mårtens Kopf über Wasser und strebte dem Land zu.
    Er schaffte es um die Ecke und nahm schemenhaft wahr, dass eine andere Gestalt in ein paar Metern Entfernung ans Ufer krabbelte.
    Maria … gut … gut  …
    Seine Hände wollten ihm nicht mehr gehorchen. Als er nach dem letzten Traktorreifen Richtung Land zu greifen versuchte, waren seine Finger so steifgefroren, dass sie von der harten Gummifläche abrutschten.
    Vom Schiffsanleger aus streckte jemand einen Bootshaken herab, und er griff nach ihm, konnte die Finger jedoch nicht um den runden Stab schließen. Er glaubte zu versinken, aber der Haken schob sich am Hals unter seinen Pullover und er wurde mit seiner Last an Land gezogen.
    Nach zwei Metern bewegten sich seine Beine auf einmal seltsam, und er begriff, dass sie über den Grund schleiften. Der Griff um seinen Halssaum wurde gelöst, und Wasser klatschte ihm ins Gesicht, als Roger hineinsprang und ihn ans Ufer zog. Er nahm wahr, dass Maria dort bereits lag und ihn mit weit aufgerissenen Augen und kreideweißem Gesicht anstarrte.
    Jemand zerrte an ihm.
    »Arvid, Arvid. Lass los. Du musst loslassen.«
    Roger zerrte an seinem linken Arm, dem Arm, der Mårten hielt. Arvid versuchte loszulassen, aber es ging nicht, der Arm hatte sich verkrampft. Die einzige Stelle mit einem letzten Rest Wärme war in seiner Mundhöhle, und er öffnete mühevoll die Lippen und sagte: »Ich kann nicht.«
    Er schaute Mårten an und sah etwas Wunderbares. Der Mund des Jungen bewegte sich, und er hustete Wasser auf Arvids Gesicht. Er lebte. Mit sanfter Gewalt gelang es Roger, Arvids Arm zur Seite zu biegen und Mårten aus Arvids Griff zu befreien.
    Während Roger Mårten aus seinem Schneeanzug schälte und in seinen eigenen Fleecepullover hüllte, kamen Ulla und Lennart Qvist hinzu, die auf dem Boot gewesen waren, und kümmerten sich um Maria und Arvid.
    Vom Schiffsanleger schallten Schreie zu ihnen herab, und als es Arvid mit etwas Hilfe schaffte aufzustehen, sah er, dass dort zwei Erwachsene Sofia festhielten, die sich hin und her warf, wie ein Tier jaulte und zu beißen versuchte. Die Möwen kreisten über den Kämpfenden wie das aufgeputschte Publikum eines Boxkampfs, flatterten um sie herum, schrien und hetzten.
    Mårten weinte in Rogers Armen, während er nach Hause getragen wurde, und auch Maria wimmerte mit blaugefrorenen Lippen, als Ulla sie an die Hand nahm. Arvid zog seinen Pullover aus, und Lennart streifte ihm einen großen Mantel über und klopfte ihm auf die Schulter.
    »Das hast du gut gemacht, Arvid.«
    Arvids Zähne klapperten so, dass er kaum sprechen konnte. Er nickte steif zu den wahnsinnigen Möwen und Sofia hinüber, die fluchend und tretend landeinwärts gezogen wurde. »Warum. Passiert. Das?«
    »Das weiß keiner«, sagte Lennart. »Das weiß keiner. Komm jetzt.«
    Auf zitternden Beinen ließ sich Arvid um die Sanddornsträucher herum und zum Dorf hinaufführen. Als er sah, dass sein Weg Sofias kreuzen würde, blieb er stehen.
    »Könntest du mir einen Gefallen tun?«
    »Sicher«, erwiderte Lennart. »Was immer du willst.«
    »Könntest du mir meine Jacke holen?«
    Während Lennart die Jacke holen ging, blieb Arvid, den Mantel eng um sich geschlungen, zurück und beobachtete, wie Sofia nach Hause verfrachtet wurde. Die Möwen verfolgten die kleine Gruppe und kreisten über ihren Köpfen, als hätten sie eine Beute erspäht und warteten nur auf den richtigen Moment, um

Weitere Kostenlose Bücher