Menschenhafen
Vögel allmählich. Der Möwenschwarm löste sich auf und verteilte sich in einer lichteren Wolke, die das ganze Eiland umfasste. Anders ließ das Ruder fallen, setzte sich auf die Heckducht und atmete in einem einzigen langen, zitternden Atemzug aus. Er legte den Kopf in die Hände und sah die Plastikflasche, die auf dem Boden rollte.
Er hatte vergessen, dass ihr Inhalt ihn bei seinem Rückzug vor den drohenden Vögeln beschützt hätte. Vielleicht hatte er es auch so getan. Er betrachtete die Flasche, die sich halb um sich selbst drehte, als eine Welle das Boot anhob. Das Etikett mit der kindlichen Handschrift seiner Vaters wurde sichtbar: WERMUT.
Er begriff. Endlich begriff er, was mit seinem Vater passiert war. An jenem Tag und allen anderen Tagen.
Wermut
Eigentlich hätte er nach Hause gehen und das Geld in sein Sparschwein legen sollen, aber Anders wollte noch ein bisschen in dem Gefühl herumlaufen, reich zu sein. Die Taschen voller Geld. Wie der Junge mit den Goldhosen konnte er mit einem Rascheln einfach einen Zehner und noch einen Zehner und dann noch einen herausziehen.
Er ging mit keiner anderen Absicht als dieser zum Lebensmittelladen: zu flanieren und Domarös momentan reichster Junge zu sein.
Die Boote waren noch draußen und suchten nach Torgny Ek, aber die Menschenmenge auf dem Schiffsanleger war kleiner geworden. Anders zögerte. Wenn er zum Anleger ging, würden dort jede Menge Erwachsene sein, die ihm Fragen stellten, und er wusste nicht, ob er das wollte.
»Hallo.«
Cecilia bremste auf ihrem Fahrrad neben ihm. Anders hob zum Gruß seine Hand. Als sie in die Nähe seiner Nase kam, merkte er, dass sie nach Fisch roch. Daraufhin vergrub er beide Hände in den Gesäßtaschen und nahm eine entspannte Körperhaltung ein.
»Was tust du?«, fragte Cecilia.
»Nichts Besonderes.«
»Was ist denn auf dem Schiffsanleger los?«
Anders holte tief Luft und fragte gleichsam beiläufig: »Möchtest du ein Eis?«
Cecilia sah ihn an, als machte er einen Witz, und lächelte unsicher.
»Ich hab kein Geld.«
»Aber ich.«
»Du lädst mich ein?«
»Ja.«
Anders wusste nur zu gut, dass es seltsam war, sie zu fragen, sie einzuladen. Aber es war sonst keiner in der Nähe, und er hatte die Taschen voller Geld. Es hatte sich einfach so ergeben.
Sie schob ihr Fahrrad zum Laden, und er ging neben ihr. Seine Hände steckten immer noch in den Gesäßtaschen. Ihre Haare waren zu zwei halblangen Zöpfen geflochten, sie hatte Sommersprossen auf der Nase, und auf einmal hatte er den Wunsch, ihre Zöpfe zu berühren. Sie sahen so … weich aus.
Glücklicherweise waren seine Hände tief in die Taschen geschoben, was verhinderte, dass sich noch etwas einfach so ergab .
Cecilia lehnte das Fahrrad an die Wand und fragte: »Hast du viele Heringe verkauft?«
»Ja, heute Morgen. Total viele.«
»Ich verkaufe immer Weihnachtszeitungen.«
»Läuft das gut?«
»Geht so.«
So langsam entspannte Anders sich wirklich. Es war der erste Sommer, in dem er überhaupt darüber nachgedacht hatte, dass er anders war als seine Freunde, die ausnahmslos Sommerurlauber waren. Dass es womöglich irgendwie peinlich sein könnte, wenn er vor dem Lebensmittelladen Heringe verkaufte und seine Hände nach Fisch rochen. Dass er ein … Bauerntrampel war. Aber Cecilia verkaufte also auch etwas. Weihnachtszeitungen rochen allerdings wahrscheinlich nicht.
Sie gingen ins Geschäft und musterten den Inhalt der Eistruhe.
»Was darf ich denn nehmen?«, fragte Cecilia.
»Was du willst.«
»Was ich will?« Sie sah ihn misstrauisch an. »Ein Cornetto Nuss?«
»Ja.
» Zwei Cornetto?
»Ja.«
» Drei Cornetto?«
Anders zuckte mit den Schultern, und Cecilia öffnete die Truhe. »Was willst du?«
»Ein Cornetto Nuss.«
Sie holte zwei Cornettos heraus, und als Anders sich über den Rand lehnte, um noch eins für sich herauszuholen, schlug Cecilia ihm auf die Schulter und sagte: »Das war doch nur ein Witz«. Sie reichte ihm die eine der beiden Eistüten, die sie in der Hand hielt.
An der Kasse holte Anders einen Zehner aus der Tasche, ohne dieses spezielle Rascheln zustande zu bringen, das man immer hörte, wenn der Junge mit den Goldhosen seine Geldscheine herauszog.
Sie setzten sich auf die Bank vor dem Geschäft und aßen ihr Eis. Anders erzählte ihr, was am Morgen passiert war, und es beeindruckte Cecilia ziemlich, dass er einen Menschen gesehen hatte, der sich in echt ertränkt hatte .
Während sie ihr Eis aßen, während Anders
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