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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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den grauen Stein zogen und ein von Möwenguano bekleckertes Muster bildeten. Er blieb mit hängenden Armen und offenem Mund stehen, während sich das Muster aus dem Untergrund löste, zusammenfügte und zu einem … Alphabet formte.
    Eine Sprache.
    Die Linien, die kreuz und quer verliefen, die einzelnen frei liegenden Punkte und Schnörkel waren allesamt Zeichen, Teile eines derart komplizierten Schriftsystems, dass sein Denken es nicht verstehen und nur feststellen konnte, es war da.
    Wie ein Kleinkind, das eine Bibel in die Finger bekommen hat und sie von sich wirft, sobald es merkt, dass sie nicht zum Herumkauen taugt, riss sich Anders vom Anblick der Schrift auf den Felsen los und ging zur Ostseite des Leuchtturmhügels. Das war nicht seine Sprache, sie hatte für ihn keine Bedeutung.
    Da er nicht wusste, wonach er suchte, wusste er auch nicht, wie er danach suchen sollte, aber sein Bewusstsein peilte die Umgebung, als wäre sie ein Knoten, den es zu lösen galt. Er musste den Punkt finden, an dem er ein klein wenig lockerer war, an dem man den Finger hineinbekam und ziehen konnte.
    Er fand keinen solchen Punkt. Die Welt war undurchdringlich solide und voller Mitteilungen, die er nicht deuten konnte.
    Die gebrochenen Treppenstufenformationen des Leuchtturmfelsens, die zum Meer hin abfielen, die einzelnen frei liegenden Steinblöcke und Striche aus Kies in den Felsspalten bildeten neue Zeichen, die ihm etwas sagen wollten. Als er aufblickte, wurde ihm beim Anblick der Vogelschwärme, die am Himmel Figuren zeichneten, ein wenig übel. Es waren Figuren, deren äußere Konturen ständig in Auflösung begriffen waren, sich zu neuen Gestalten umformten.
    Alles spricht zu mir. Und ich verstehe nicht, was es sagt.
    Anders ging in die Hocke, tauchte seine Hände in eine Pfütze glasklaren Regenwassers, rieb sich übers Gesicht und schloss für einen Moment die Augen.
    Als er sie wieder öffnete, war das Visionäre etwas schwächer geworden, und er konnte blinzelnd zum Leuchtturm hinaufgehen. Die Tür war wie beim letzten Mal nicht abgeschlossen. Für eines war er dankbar: Die halluzinative Wirkung des Wermuts blockierte fast vollständig seine Erinnerungen. Im Gegenteil, Anders wurde so ins Hier und Jetzt geworfen, dass es wehtat. Was aber trotzdem besser war.
    Er öffnete die Tür und wurde von der kleinen Büchse und der Bitte um eine Spende empfangen. Er wühlte in seinen Taschen, ohne etwas zu finden, und ging an ihr vorbei. Er hielt inne und kicherte.
    Vielleicht attackieren mich die Vögel ja jetzt.
    Nein. Während er die Leuchtturmtreppe hinaufstieg, hörte er sie draußen schreien und kollern. Verstanden sie ihre Sprachen, von Art zu Art? Wahrscheinlich nicht, aber woher wussten sie dann, dass sie sich sammeln sollten?
    Alles spricht. Alles lauscht.
    Während er hinaufstieg, strich er mit der rechten Hand über die äußere Wand. Er passierte das kreisrunde Zimmer und nahm die Treppe zum Reflektor.
    Der Raum sah noch so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte, nichts war verändert. Die großen Fenster und die glänzenden Spiegel des Reflektors warfen das Tageslicht so in die Runde, dass es in dem Raum heller zu sein schien als im Freien. Er ging zu der Stelle, an der Maja Was ist das? gefragt hatte, spähte auf das Meer im Osten hinaus und suchte.
    Anfangs war dort nichts.
    Seine Augen waren ungewöhnlich lichtempfindlich, und obwohl der Himmel wolkenverhangen war, musste er blinzeln, um auf das schwach schäumende Wasser hinausschauen zu können. Er blickte auf die scharfen Kanten der Felsen und das Vogelgewirr hinab und spürte das Pflanzengift durch seinen Körper strömen wie einen neongrünen Faden.
    Nichts .
    Dann kam es. Zunächst so schwach wie die Wahrnehmung der Atmung eines anderen Menschen in einem stockfinsteren Zimmer. Dann stärker. Ein schwer beschreibbares Wissen. Anders keuchte und taumelte, lehnte sich gegen den Glaskäfig, der den Reflektor umschloss.
    Die Tiefe.
    Die Tiefe. Wie tief …
    Er stand auf nichts. Die Tiefe war alles.
    Es heißt, dass nur zehn Prozent eines Eisbergs aus dem Wasser ragen. Etwas ganz Ähnliches empfand Anders während eines kalten, brennenden Augenblicks im ganzen Körper, nur stärker, größer: Was herausragte, worauf er stand, entsprach nicht einmal einem Prozent. Es war fast nichts. Ein Nähfaden über einem Abgrund.
    Seine Beine gaben nach, und er sackte zusammen und nach hinten, bis sein Kopf auf die Bodendielen schlug.
    Wir sind so klein. Wir armen Menschen mit

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