Menschenhafen
funktionierende Geschäftsbeziehung hatten und sogar gute Bekannte genannt werden konnten, war es Gustav doch ein wenig unangenehm, über Nacht ein Weibsbild im Haus zu haben. Er wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte, und hatte das Gefühl, in seiner eigenen Behausung im Weg zu stehen.
Umso erleichterter war er, als sich zeigte, dass Anna-Greta einem Gläschen Schnaps nicht abgeneigt war. Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, blickten auf die aufgewühlte See hinaus, deren Brandung im Licht des Leuchtturms aufleuchtete, und tranken ein paar Gläser, durch die sich seine Verlegenheit allmählich verflüchtigte.
Hätte man es nicht mit eigenen Ohren gehört, man hätte sich geweigert, es zu glauben, aber zum Abend hin wurde Gustav regelrecht gesprächig. Er heizte tüchtig ein, und die Temperatur stieg, während Gustav Geschichten von Schiffbrüchen, in Felsen geritzten Seekarten und Vögeln erzählte, die auf ihren Herbstzügen mit dem Leuchtturm kollidierten und schubkarrenweise starben.
Als er mit hochrotem Kopf seinen Wollpullover auszog, sah Anna-Greta, dass er sein Unterhemd verkehrt herum trug, und wies ihn darauf hin. Gustav sah sie unter halb geschlossenen Lidern an. »Man muss sich eben schützen, so gut man kann.«
»Du glaubst doch nicht an so einen Unsinn, Gustav.«
»Nee. Aber an das hier glaube ich«, erwiderte Gustav und holte eine Flasche mit einem trüben Inhalt heraus. »Und das solltest du auch, wenn du hier übernachten willst.«
Aus purer Höflichkeit trank Anna-Greta ein Schnapsglas von dem bitteren Gebräu. Sie wusste, dass viele Leuchtturmwärter Wermut anpflanzten, um ihren Schnaps damit zu aromatisieren, aber Gustavs Getränk war gelinde gesagt überdosiert und schmeckte abscheulich.
»Ein Genuss ist das nicht«, meinte Gustav, als Anna-Greta das Glas auf den Tisch knallte, »aber es beschützt einen, und das ist die Sache ja vielleicht wert.«
Anna-Greta gab sich mit einer solchen Behauptung nicht zufrieden. Der Schnaps hatte sie wissbegierig und Gustav mitteilsam gemacht, und so kam es, dass Gustav zum ersten Mal berichtete, wie es sich mit dem Meer verhielt.
Es wolle ihn haben, sagte er. Es rufe nach ihm. Es zeige ihm Visionen und mache ihm falsche Versprechungen. Es drohe. Er habe sich der Bibel zugewandt und dort eine gewisse Orientierung gefunden, aber wenn es rund um den Leuchtturm nicht Wermut in Hülle und Fülle gegeben hätte, wäre er niemals auf die Idee gekommen.
Und wie sich zeigte, funktionierte es. Das Meer wagte es nicht mehr, ihn drohend anzurühren, und die nächtlichen Einflüsterungen waren so gut wie verstummt, seit er sein Blut mit Wermut vermengte.
Am nächsten Morgen hatte sich der Wind gelegt, und Anna-Greta konnte sich auf den Heimweg machen. Ehe sie fuhr, überreichte Gustav ihr eine Kaffeedose, in die er eine Wermutpflanze mit etwas Erde gestopft hatte.
»Pflege sie wohl«, sagte er mit seiner tiefen, prophetischen Stimme halb im Scherz, »auf dass sie sich vermehren und die Erde bedecken möge.«
Anna-Greta winkte Gustav zum Abschied und entfernte sich von der Insel. Sie war kaum mehr als eine Seemeile weit ge kommen, als sie ein seltsames Nebengeräusch im Motor hörte. Aus Angst vor einer größeren Havarie schaltete sie den Motor sofort aus und begann Anschlüsse und Dichtungen zu überprüfen.
Doch das Nebengeräusch blieb, obwohl der Motor aus war. Es war ein schmeichelnder, wischender Laut. Sie wandte sich in alle Richtungen, konnte die Quelle des Geräuschs jedoch nirgendwo orten. Sie lehnte sich über die Reling und schaute ins Wasser. Das Wasser war so weich und einladend wie die offenen Arme eines Geliebten. Sie wollte zu ihm.
Es war das erste Mal, dass sie den Lockruf vernahm.
Es gelang ihr, die Verzauberung zu brechen, indem sie den Motor anließ und sich auf sein gleichförmiges Tuckern konzentrierte, aber hinter dem Arbeiten der Kurbeln und Kolben hörte sie weiter jenes Wispern ohne Worte, das eine Verheißung von Wärme und großer Einfachheit war.
Gustav hatte behauptet, auf Domarö gebe es noch mehr Menschen, die von den Geheimnissen des Meeres wüssten, jedoch nie darüber sprächen. Jetzt glaubte Anna-Greta den Grund für ihr Schweigen zu kennen. Es war ein wirklich wichtiges Detail, das in Gustavs privater Erkenntnis gefehlt hatte.
Man hört es nicht, wenn man nichts davon weiß.
Anna-Greta betrieb ihren Seehandel noch ein paar Jahre, aber nachdem sie Simon kennengelernt hatte, verkaufte sie ihr Boot, um den
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