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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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und konkret. Ein Mensch in einem Boot, jemand, der mit diesem Aalstecher gefischt hatte, war vor tausend Jahren über ihr Grundstück gefahren und hatte sein Angelgerät verloren. Der Gedanke hatte Johan keine Ruhe gelassen.
    Er war nie ein leidenschaftlicher Leser gewesen, aber den ganzen Sommer über studierte er die Geschichte der Schären im Allgemeinen und Domarös im Besonderen. Die Sache ging so weit, dass er ernsthaft in Erwägung zog, Geologie oder etwas Ähnliches zu studieren, aber als es Herbst wurde, bekam er stattdessen eine Lehrstelle auf der Werft in Nåten und gab seine Studienpläne wieder auf.
    Der Aalstecher geriet in Vergessenheit und landete schließlich in den Eckchen.
    Simon balancierte den Aalstecher auf Zeige- und Mittelfinger. Er wog gut ein halbes Kilo und hatte wahrscheinlich auf einem Stiel gesessen, der vor langer Zeit vermodert war. Fische waren durchbohrt, herausgezogen und verspeist worden. Der Fischer hatte wahrscheinlich einen neuen Aalstecher fabriziert, neue Fische gejagt und sie gegessen, aber umsonst. Auch er war irgendwann zum Grund oder zu Boden gefallen und verwest. Nur der Aalstecher hatte überdauert.
    »Anna-Greta?«, sagte Simon. »Was ist eigentlich mit Johan passiert?«
    Anna-Greta faltete das Brautkleid sorgsam zusammen und legte es in eine Plastiktüte, um es zu schützen. Simon wusste nicht, ob es eine dumme Idee war, diese Frage zu stellen, aber in gewisser Weise hatte sie das Thema selbst aufgegriffen, als sie den Aalstecher holte.
    Er dachte schon, dass er keine Antwort bekommen würde, als Anna-Greta die Plastiktüte auf die Küchenbank legte und sagte: »Hast du schon einmal von Gunnilsöra gehört?«
    »Ja«, antwortete Simon. »Das ist doch diese Insel, die man nur manchmal sehen kann. Die auftaucht und wieder verschwindet. Wieso?«
    »Was hältst du davon?«
    Simon begriff nicht ganz, welche Richtung ihr Gespräch nahm, antwortete jedoch, so gut er konnte. »Das ist eigentlich eher nichts, wovon man etwas hält . Soweit ich weiß, hat man sie auf alle möglichen Arten gedeutet, von den Gestaden des Paradieses bis zur Wohnstatt des Leibhaftigen. Aber in Wahrheit ist es doch eher eine Art optisches Phänomen, das mit dem Wetter zu tun hat, oder nicht?«
    Anna-Greta strich mit einem Finger über den Aalstecher, der sauber und glatt war, nachdem Johan ihn damals poliert hatte. »Sie hat nach ihm gerufen. Er hat einen Fang aus dem Meer gezogen, den er besser nicht herausgeholt hätte.«
    »Die Insel hat nach ihm gerufen? Welche Insel?«
    »Er meinte, sie liege in Richtung Gåvasten. Aber es sei nicht Gåvasten. Sie bewege sich. Eines Nachts habe sie vor seinem Haus gelegen, hat er gesagt. Und nach ihm gerufen. Weißt du nicht mehr, was für eine Angst er hatte, Simon? Wie sehr er sich die ganze Zeit gefürchtet hat?«
    »Doch«, erwiderte Simon. Er erinnerte sich sowohl an den enthusiastischen Jungen, der den Aalstecher ausgegraben hatte, als auch an den immer verwirrteren und abwesenderen Mann, zu dem dieser Junge geworden war. »Aber das klingt doch völlig verrückt. Eine Insel, die einen Menschen jagt?«
    Anna-Greta lehnte sich zu ihm vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Hast du den Ruf des Meeres nicht gehört?«
    Noch vor einer Woche hätte Simon sich Sorgen um Anna-Gretas geistige Gesundheit gemacht, wenn sie ihn mit diesem bebenden Ernst eine derartige Frage gestellt hätte. Vor einer Woche hatte er die Tiefe noch nicht gesehen und auch keinen Körper in dieser Tiefe versenkt.
    »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Vielleicht. Hörst du es?«
    Anna-Greta schaute zum Fenster hinaus, und ihr Blick verlor sich in der Ferne, verschwand zu den äußeren Fahrrinnen. »Habe ich dir jemals von Gustav Jansson erzählt?«, fragte sie. »Dem Leuchtturmwärter auf Stora Korset?«
    »Ja. Du kanntest ihn, nicht wahr?«
    Anna-Greta nickte. »Für mich fing es mit ihm an.«
    Der Wärter
    Stora Korset ist der letzte Vorposten vor der Ålandsee. So weit jenseits von allem anderen liegt diese Insel, dass der Leuchtturmwärter über sein normales Gehalt hinaus einen sogenannten Abgeschiedenheitszuschlag ausgezahlt bekam. Eine kleine Sonderzahlung für ertragene Einsamkeit.
    Von Ende derDreißigerjahre bis Anfang der Fünfzigerjahre kümmerte sich Gustav Jansson dort draußen um den Betrieb des Leuchtturms. Er stammte ursprünglich von Domarö, war aber menschenscheu, und als die Stelle des Leuchtturmwärters frei wurde, sah er darin eine Möglichkeit, endlich

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