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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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dieser seltsame Umstand nun ins Auge zu springen. Anna-Greta sah Anders mit einem Blick an, der sich unmöglich deuten ließ. Sie sagte: »Wahrscheinlich hat man Respekt vor der Trauer anderer Menschen.«
    »Und was ist mit Holger?«, widersprach Anders. »Seine Frau ertrinkt, und Simon erzählt mir, dass es sofort Leute gibt, die ihn verdächtigen. Obwohl es doch … trotz allem natürlich ist. Zu ertrinken, meine ich. So was kommt vor. Aber Maja … na gut, die Polizei hat natürlich Fragen gestellt. Aber hier kein Mensch. Keiner.«
    Simon trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und stellte sie behutsam ab, als wollte er die Stille nicht durchbrechen. Ein Windstoß ließ einen Schleier aus Espenblättern am Fenster vorüberziehen.
    »Jetzt, wo du es sagst, ist es wirklich seltsam«, meinte Simon.
    Anna-Greta reichte Anders die Thermoskanne und drängte ihn, sich noch eine Tasse einzugießen. »Es kommt bestimmt ganz darauf an, um wen es geht«, sagte sie. »Hier kennt dich doch jeder von klein auf. Und jeder weiß, dass du so etwas niemals tun würdest. Im Unterschied zu Holger.«
    Anders goss sich eine halbe Tasse ein. Er war nicht überzeugt und fand es immer noch schwer zu verstehen, sagte aber: »Ja. Mag sein.«
    Man unterhielt sich über andere Dinge. Über eventuelle Reparaturen am Haus, wie man vorgehen würde, falls Anders’ Außenbordmotor sich weigern sollte anzuspringen, über Klatsch aus dem Dorf. Anders wollte nicht aufstehen und nach Hause gehen. Dort erwartete ihn nichts als ein ausgekühltes Haus.
    Als eine Pause entstand, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, faltete die Hände auf dem Bauch und sah Simon und Anna-Greta an.
    »Wie ist das damals eigentlich gewesen, als ihr euch kennengelernt habt?«
    Die Frage löste bei Simon und Anna-Greta simultanes Grinsen aus. Sie sahen sich an, und Simon schüttelte den Kopf. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Habt ihr etwas Besseres vor?«, fragte Anders. Weder Simon noch Anna-Greta hatten auf Anhieb einen Vorschlag zu machen. »Kann ich sie dann bitte hören?«
    Anna-Greta sah zum Fenster hinaus. Der Wind frischte auf. Der Himmel war bewölkt, und auf der grauen Bucht sah man weiße Schaumkronen. Regenspritzer trafen die Scheibe. Sie strich sich über die Stirn und fragte: »Was weißt du über deinen Großvater?«

LIEBE IN DEN SCHÄREN
    Jetzt geht’s zum Gipfel, Gipfel, Gipfel,
    hinauf in der neuen Liebe Wipfel, Wipfel, Wipfel,
    komm, komm, komm einfach mit mir,
    sei wie ein Lamm so fromm, fromm, fromm …
    ULLA BILLQUIST – JETZT GEHT’S ZUM GIPFEL, GIPFEL, GIPFEL
    Die Geschichte über die Geschichte
    Auf Domarö gibt es zwei Schnapsflaschen, die etwas Besonderes sind. Die eine steht noch immer in Nathan Lindgrens altem Fischerschuppen und wird dort wohl auch so lange stehen bleiben, bis seine Verwandten irgendwann den Hintern hochbekommen und seinen Nachlass entrümpeln. Die zweite befindet sich in Evert Karlssons Besitz.
    Evert geht auf die neunzig zu und bewahrt diese Flasche seit mittlerweile fast sechzig Jahren auf. Keiner weiß, wie der billige Branntwein in ihr schmecken mag, und solange Evert lebt, wird es auch niemand erfahren. Er hat nämlich nicht die Absicht, sie zu entkorken. Dafür sind die Flasche und ihr Inhalt eine viel zu gute Geschichte.
    Deshalb hat Evert sie nämlich aufbewahrt: Nur um die Flasche beim Besuch von Fremden, die seine Geschichte noch nicht gehört haben, aus dem Büfett holen und sagen zu können: »Kennt ihr eigentlich die Geschichte davon, wie Anna-Greta auf dem Kreuzer der Zollfahndung Schnaps geschmuggelt hat? Ach, die kennt ihr nicht? Nun, das war so …«
    Und er erzählt seine Geschichte, wobei seine Finger sanft über das Glas der Flasche streichen. Es ist die beste Geschichte, die er kennt, und noch dazu von Anfang bis Ende wahr. Wenn er fertig ist, lässt er die Flasche unter strengen Ermahnungen, sie vorsichtig zu halten und ja nicht fallen zu lassen, herumgehen.
    Die Leute betrachten die durchsichtige Flüssigkeit hinter dem Glas. Nichts an ihr verrät, dass sie auf solch eigentümlichen Wegen an Land gekommen ist. Aber diese Flüssigkeit war tatsächlich Teil der Partie, die Anna-Greta überall in den Schären zu einer Berühmtheit machte. Es ist, mit Everts Worten, der Originalschnaps.
    Nachher stellt er die Flasche wieder in das Büfett zurück, wo sie dann auf die nächste Gelegenheit wartet, bei der sie herausgeholt und die Geschichte ein weiteres Mal erzählt werden wird.
    Die

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