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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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die Jahre fielen von ihnen ab, ja, manchmal konnte Simon sogar seine versteiften Finger bewegen und nutzte die Chance, sie einzusetzen.
    Seit Simon sich zwei Jahre zuvor eine Rippe gebrochen hatte, als er sich herumwarf, trauten sie sich nicht mehr, die Stellung zu wechseln. Also blieben sie, wo sie waren, bewegten sich auf der Stelle und murmelten leise Worte der Liebe, bis alles in Stücke zersprang und vereint wurde.
    Anna-Greta schlief. Simon lag neben ihr und sah sie an. Ihre Lippen waren eingesunken, seit sie nach dem Liebesakt ihr Gebiss herausgenommen hatte. Selbst wenn er sich die größte Mühe gab, konnte er ihren Mund ohne Zähne nicht schön finden, weshalb er es tunlichst vermied, ihren Mund anzuschauen.
    Die Lider waren dünn, fast durchleuchtet vom Licht der halb heruntergebrannten Kerze, und er sah, wie sich die Augäpfel unter der Haut bewegten. Vielleicht träumte sie. Die tiefen Falten zwischen Nase und Mund wurden eine Spur hochgezogen, als nähme sie im Traum einen Geruch war, der ihr nicht gefiel.
    Wer bist du?
    Vor dem Fenster wehte ein scharfer Wind, und die Kerze flackerte. Ein Schatten huschte über Anna-Gretas Gesicht, und ihre Miene veränderte sich für eine halbe Sekunde und wurde zu etwas, das er noch nie gesehen hatte. Dann war sie wieder zurück.
    Wer bist du?
    Fünfzig Jahre waren sie mittlerweile ein Paar, und er wusste alles über sie. Nur nicht, wer sie war. Sie hatte ihm Geschichten aus der Zeit erzählt, bevor sie sich kannten, er hatte sie fast zwei Drittel ihres Lebens begleitet und wusste genau, wie sie in praktisch allen Lebenslagen reagieren würde. Trotzdem wollte es ihm nicht gelingen, dieses Gefühl abzuschütteln: dass er nicht wusste, wer sie war.
    Vielleicht hatten alle damit zu kämpfen, ganz gleich, wie nah sie einander standen, aber im Grunde glaubte er das nicht. Hier ging es um mehr. Um etwas in der Art von … Spiritus. Er hatte ihr nie erzählt, was er in seiner Streichholzschachtel aufbewahrte. Also war er in gewisser Weise auch ein Fremdling für sie.
    Warum habe ich ihr das nicht erzählt?
    Er hatte keine Ahnung. Eine innere Stimme hatte ihm gesagt, dass er es nicht tun sollte. Vermutlich hing es zusammen.
    Simon seufzte schwer, rollte sich zur Bettkante und schaffte es mit etwas Mühe, sich aufzusetzen. Wurde sein Körper dreißig Jahre jünger, wenn sie sich liebten, wurde er dreißig Jahre älter, sobald es vorbei war. Muskeln und Glieder knirschten und klagten, und er fühlte sich reif für den Sarkophag.
    Hierzu wird es wohl nicht mehr oft kommen.
    Er zog Strümpfe, Unterhose und Hose an. Dieser Gedanke war ihm in den letzten Jahren immer gekommen, nachdem sie sich geliebt hatten. Aber wenn es so weit war, setzte sich die Maschine dann doch wieder in Bewegung. Solange es währte.
    Er entwirrte Unterhemd und Hemd, blies die Kerze aus und schlich sich aus dem Zimmer. Auf das Geländer gestützt, stieg er vorsichtig, Schritt für Schritt, die Treppe hinunter. Der Wind pfiff um die Hausecken, und das Holz in dem alten Haus ächzte schlimmer als sein eigener Körper. Aus einer steifen Brise war ein richtiger Sturm geworden, und er sollte eigentlich zum Ufer gehen und nach seinem Boot sehen.
    Was ist, wenn es sich losgerissen hat?
    Dann ließ sich das auch nicht ändern. Zu Manövern dieser Art reichten seine Kräfte nicht mehr aus. Aber dann wusste er wenigstens, wie es aussah. Er griff nach seinem Pullover, der über einen Küchenstuhl geworfen lag, zog ihn sich über den Kopf und öffnete die Haustür.
    Der Wind erfasste die Tür, und er musste sekundenlang gegen ihn ankämpfen, um sie schließen zu können, ohne dass es mit einem Knall geschah. Anschließend schlang er die Arme um seinen Körper und schlurfte eher, als dass er ging, zu seinem Haus.
    Es war ein grandioser Sturm, aber nur schwer zu genießen. Die großen Birken wankten bedrohlich über den Häusern, und wenn eine von ihnen in die falsche Richtung fiel, würde es schwere Schäden geben. Immer wenn es stürmisch war, dachte Simon, dass er sie fällen sollte, und immer wenn der Wind sich legte, gelang es ihm, es wieder zu vergessen, weil es zu viel Arbeit war.
    Er wandte sein Gesicht dem Meer zu, und der Nordwind er fasste ihn mit voller Wucht. Der Leuchtturm von Gåvasten blinkte weit draußen und das Meer …
    … das Meer …
    In seinem Inneren löste sich etwas. Ein Stück von dem, was er brauchte, fiel weg.
    … das Meer  …
    Tastend suchte er nach einer Möglichkeit, sich

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