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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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das auch ausgesehen.
    Manchmal vergingen Wochen, bis sich die richtigen Voraussetzungen einstellten. Da sie nicht im selben Bett oder auch nur im selben Haus schliefen, konnte der Liebesakt nicht spontan beginnen, als ein Intermezzo kurz vor dem Einschlafen. Darüber hinaus waren sie nie so weit gekommen, dass die Frage ganz offen gestellt werden konnte, und so weit würden sie auch niemals kommen, weil die Sexualität für beide ein Mysterium und Geheimnis war, kein Stück Fleisch, das nach Harmonie suchte.
    Also ging es um ein Gewebe aus unausgesprochenen Fragen und Antworten, um kleine Bewegungen, die das Terrain sondierten. Eine Hand auf einem Arm, ein Blick, der einen Tick zu lange erwidert wurde, ein Lächeln, das Mutwilligkeit andeutete. So konnte es über Tage hinweg weitergehen, bis sie nicht mehr wussten, wer fragte und wer antwortete, zwischen ihnen im Stillen jedoch die Gewissheit wuchs: Es war so weit.
    Gemeinsam gingen sie ins Schlafzimmer, immer Anna- Gretas Schlafzimmer, da sie das breitere Bett hatte. Sie zündeten Kerzen an und zogen sich aus. Anna-Greta konnte sich noch stehend ausziehen, während Simon sich auf die Bettkante setzen musste, um Hose und Strümpfe loszuwerden.
    Immer seltener klappte es von Anfang an. Möglicherweise als Vorbereitung auf seinen Tod hatten Simons Geist und Fleisch begonnen, sich voneinander zu verabschieden. Wenn Anna-Greta sich neben ihn legte, spielte es keine Rolle, wie sehr sich sein Wille um ihren geliebten Körper schloss, seine Lippen um ihre Hüften. Es wollte nicht gehen.
    Das Ausbleiben seiner Erektion war ein Problem, das seit vielen Jahren jede Dramatik verloren hatte und inzwischen ein erwarteter Bestandteil des Geschehens war. Trotzdem versetzte es ihm immer noch einen Stich, sodass er jedes Mal dachte: Jetzt aber. Nur dieses eine Mal. Er hatte sogar Viagra in Erwägung gezogen, und sei es auch nur, um ein einziges Mal von Anfang an mit einem richtigen Prachtständer als Geschenk überraschen zu können.
    Aber bis auf Weiteres brauchte es die Zeit, die es brauchte. Sie streichelten und leckten und knabberten liebevoll aneinander. Von Zeit zu Zeit lutschte Anna-Greta prüfend an ihm, um zu sehen, ob die Schwellkörper beschlossen hatten, aus ihrem Schlaf zu erwachen. Wenn sich eine Antwort abzeichnete, fuhr sie fort, bis er bereit war, aber meistens war es, als redete man mit einer Wand.
    Simon war der Gedanke gekommen, dass dies die Ironie des Alters war: Bei dem einzigen Körperteil an ihm, das nicht starr und steif war, wünschte er sich, es wäre steif. Die Jahre als Entfesselungskünstler hatten seine Glieder sabotiert, und sein Skelett fühlte sich an wie ein aus Treibholz und rostigen Nägeln zusammengefügtes Strandmonster. Er spürte, ja, hörte fast, wie es quietschte, wenn er sich neben Anna-Gretas geschmeidigerem Körper bewegte.
    Es dauerte mit jedem Jahr länger, aber ganz allmählich begann das Wunder einzusickern. In den Schulterblättern ent stand eine Wärme, die sich sachte über den ganzen Rücken und die Schultern ausbreitete, bis er seine Arme auf eine Art bewegen konnte, die ihm im Alltag versagt war: sanft. Anna-Greta lächelte, wenn seine Liebkosungen einfühlsamer, die Berührungen leichter wurden.
    Er war wieder eins mit seinem Körper, und wenn Anna-Greta den Kopf zu seinem Unterleib senkte, kam die Antwort als ein Kribbeln, und der Totgeglaubte erhob sich. In diesem Moment schwebte Simon schon in dem Genuss, der in der Abwesenheit von Schmerz lag, und hätte durchaus an diesem Punkt verharren und sich damit zufrieden geben können, weich und weltvergessen und nah zu sein. Doch wenn Anna-Greta sich auf ihn legte und ihn einführte, erwachte ein anderes schlummerndes Gefühl zum Leben. Die Vorbereitungen waren vorbei und der Körper willig. Er ließ seiner Lust freien Lauf.
    Wenn sie endlich diesen Punkt erreicht hatten, machte sie die Lust zu einer Einheit. Sie war ein glühender Ball in der Brust, der rote Fäden in den Kopf ausstreckte. Er packte ihre Hüften, und sie stimmten ihre Bewegungen aufeinander ab oder hielten dagegen, wie es sich gerade ergab, und es gab nur noch sie und ihn in der ganzen Welt.
    Wenn Simon endlich in Schwung gekommen war, konnte er lange weitermachen. Also liebten sie sich lange. Alles andere wäre eine Dummheit gewesen. Niemals waren ihre altersschwerfälligen Körper so leicht wie in diesen Momenten, und niemals hatten Zeit und Sorgen so wenig Bedeutung. Sie wiegten sich außerhalb der Zeit, und

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