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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Zeichnungen. Mit zitternden Händen streifte er das Gummiband ab und verteilte die Zeichnungen auf dem Bett.
    Die meisten waren ohne Text, und wenn überhaupt, stand dort nur »Für Mama«, »Für Papa«
    Aber es gab eine …
    Um die Rückseiten zu kontrollieren, drehte er die verschiedenen Zeichnungen von Bäumen, Häusern und Blumen um und fand es schließlich. Auf der Rückseite einer Zeichnung von vier Sonnenblumen und etwas, das entweder ein Pferd oder ein Hund sein mochte, hatte Maja geschrieben:

    Zehn Minuten und zwei Wutanfälle waren nötig gewesen, bis sie zufrieden mit dem war, was sie geschrieben hatte. Frühere Versionen waren wütend ausradiert worden. Die Zeichnung war für Anna-Gretas Geburtstag bestimmt gewesen, aus irgendeinem Grund aber niemals übergeben worden. Dort stand also: »Für Großmutter Anna-Greta.«
    Die Rs waren auf die gleiche Art falsch herum, aber es war ein ungewöhnlicherer Fehler, der Anders die Hand gegen den Mund pressen und ihm Tränen in die Augen steigen ließ: dass in beiden Fällen das T einen weiteren Querstrich bekommen hatte und so zu einem F geworden war.
    Im Grunde hatte er die ganze Zeit gewusst, was auf dem Küchentisch stand, sich jedoch geweigert, es zu akzeptieren. Es war mit der exakt gleichen Handschrift geschrieben wie auf der Zeichnung, und dort stand:
    »Trag mich«.
    Es war Viertel nach drei, und Anders wusste, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, und das einzig Vernünftige wäre gewesen, das Chaos im Wohnzimmer zu beheben und irgendwie das Fenster abzudichten.
    Aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Er war zugleich erschöpft und hellwach, sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er konnte nur am Küchentisch sitzen und seine Finger ineinanderschieben und wieder trennen, während er die Mitteilung betrachtete, die er von seiner Tochter bekommen hatte.
    Trag mich .
    Von wo sollte er sie wegtragen? Wo sollte er sie abholen? Wohin sollte er sie tragen? Wie?
    »Maja? Maja, mein Liebling, wenn du mich hörst … dann sag mir noch mehr. Erklär mir mehr. Ich verstehe nicht, was ich tun soll.«
    Er bekam keine Antwort. Er war selbst dabei, sich vor Erregung aufzulösen und ein Gespenst zu werden. Wenn sie denn ein Gespenst war. Wenn es nicht vielmehr so war, dass sie tatsächlich hier gewesen war und …
    Aber wenn sie hier war, warum ist sie dann wieder gegangen?
    Er stand auf, drehte eine Runde durchs Zimmer, fand keine Ruhe. Sein Blick fiel auf ein paar leere Halbliterflaschen Mineralwasser, Wasserflaschen, die sie manchmal auf Ausflügen mitgenommen hatten. Er konnte im Moment doch nichts tun, kam so nicht weiter. Also konnte er genauso gut seinen Plan in Angriff nehmen.
    Aus der Vorratskammer holte er die sechs Tetrapaks mit spanischem Tafelwein, die er nach Domarö mitgebracht hatte, und füllte die vier Mineralwasserflaschen jeweils zu einem Drittel mit Wein. Anschließend füllte er eine von ihnen mit Leitungswasser auf und trank einen Schluck. Es schmeckte nicht. Eher nach aromatisiertem Wasser als nach verdünntem Wein.
    Im hintersten Winkel der Vorratskammer fand er zwei kleine Kartons mit Traubensaftkonzentrat zum Mischen mit Wasser. Er goss einen halben Deziliter in einer der Flaschen auf den Wein. Anschließend füllte er die Flasche mit Wasser auf. Jetzt schmeckte es nicht mehr wässrig, sondern wie sehr leichter Wein. Vielleicht viereinhalb Prozent Alkohol, ungefähr so viel wie Bier.
    Er schraubte die Flasche zu, zog die Tülle hoch, sodass man Flüssigkeit heraussaugen konnte, und trank einen halben Deziliter.
    So simpel war der Plan, mit dessen Hilfe er sich von seinem Trieb befreien würde, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken: Er würde zwar weiter konstant, aber dafür weniger trinken und sich von morgens bis abends auf einem akzeptablen Alkoholpegel einpendeln. Er rechnete damit, dass seine zerrende Begierde und die scharfen Kanten der Welt so gleichermaßen aufgeweicht und dadurch beherrschbar werden würden.
    Er präparierte die anderen Flaschen nach der gleichen Methode. Als er fertig war, hatte er noch fünf Tetrapaks und einen Saftkarton übrig, mit denen er die Flaschen auffüllen würde, sobald sie leer waren.
    Trag mich .
    Er schloss die Augen und versuchte vor sich zu sehen, wie Maja in die Küche kam, den Stift nahm, die Buchstaben schrieb und danach … danach … ein paar Plastikperlen in die Stiftplatte drückte und wieder ging. Sie hatte immer noch den roten Schneeanzug

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