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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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der Küche schaute man auf Kattholmen, und trotz des trüben Wetters waren die Kacheln und die rostfreie Spüle in das Licht von Himmel und Meer getaucht. Alles war gestochen scharf wie auf einer Fotografie. Anders setzte sich mit dem Rücken zum Fenster, während Elin sein Glas mit Gato Negro aus einem 3-Liter-Behälter füllte. Sie erhoben ihre Gläser und tranken. Anders zügelte sich, um nicht zu große Schlucke zu nehmen.
    »Wie geht es dir?«, fragte er.
    Elin strich über die Katze auf dem Karton. »Hier haben wir all die Abende zusammengehockt, nicht wahr? Wenn meine Eltern nicht da waren.«
    »Ja. Und später auch die Nächte.«
    Elin nickte und fuhr fort, mit dem Finger den Konturen der Katze zu folgen. Weil sie ihn nicht ansah, wagte es Anders, ihr Gesicht zu studieren.
    Die Nase, damals schlank und gerade, war jetzt doppelt so groß und platt. Das Kinn, einst entschlossen vorspringend und etwas eckig, war spitz und fliehend geworden, sodass es nahtlos in den Hals überging. Ihre deutlich sichtbaren Wangenknochen und Lachgrübchen waren verschwunden und die Lippen …
    Diese Lippen, die sich in Nahaufnahmen, Brustbildern, Ganzkörperaufnahmen gespitzt hatten und schon vor den Silikonfüllungen begehrenswert gewesen waren, wirkten nun zusammengepresst und waren zu zwei schmalen Strichen geworden, die markierten, wo der Mund begann und endete, und im Grunde nicht einmal das.
    Sie hatte Tränensäcke unter den Augen, die selbst bei einer zwanzig Jahre älteren Frau unnatürlich ausgesehen hätten, aber wirklich unbegreiflich war, dass Anders in dem klinischen Licht die Linien schlecht verheilter Narben unter den Augen sehen konnte. Als hätte sie etwas gegen die Tränensäcke unternommen. Als wären sie früher noch viel schlimmer gewesen.
    Er trank einen großen Schluck Wein, fast das halbe Glas, und als er sich dabei ertappte, war es schon zu spät, er konnte ihn ja schlecht zurückspucken. Elin sah ihn an, aber es gelang ihm nicht, ihre Miene zu deuten. Man konnte sie genauso wenig lesen wie ein zerrissenes Buch.
    Jetzt werden wir plaudern.
    Jetzt würde er daran anknüpfen, dass sie hier gesessen hatten, an all das, was sie vor langer Zeit getan hatten, und er würde weder ihr Gesicht noch die Fischerhütten auf Kattholmen erwähnen, wo alles geendet hatte.
    Was haben wir eigentlich gemacht?
    Er suchte nach einer lustigen Erinnerung über die sie lachen konnten, nach etwas, das die seltsame Stimmung entschärfte, die im Moment herrschte. Ihm fiel nichts ein. Er entsann sich nur noch, dass sie Tee getrunken hatten, Unmengen von Tee mit Honig, dass manchmal kein Honig mehr da war und … Die Worte sprudelten aus ihm heraus: »Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?«
    Die Furche zwischen Elins schmalen Lippen wurde gestreckt und zu den Wangen hochgezogen, was man als ein Lächeln deuten konnte. »Es ist nicht nur das Gesicht.«
    Sie trat in den Raum und strich mit den Händen über ihren Körper. Anders schlug die Augen nieder und Elin sagte: »Sieh her.«
    Er sah hin. Die schweren Brüste, die den Playboy zu der Schlagzeile »Bomben in Sicht!« veranlasst hatten, waren eingeschrumpft und platt gedrückt, hoben sich kaum noch vom restlichen Körper ab. Elin zog den Sweater über den Bauch hinauf. Der Bauch hing heraus und bildete eine Falte im Jeansbund. Ihre Lippen gaben erneut vor zu lächeln.
    »Man konnte die Implantate aus den Brüsten hier wieder einsetzen.« Sie griff in die Beule über ihrer rechten Hüfte und drückte zu. »Dann musste ich natürlich auch einiges wegschneiden lassen. Sie waren ja auch vorher schon ziemlich groß.«
    Elin zog den Sweater noch etwas höher, sodass der untere Rand ihrer Brüste sichtbar wurde. Anders sah die schlecht verheilte Narbe und blickte zu Boden. »Aber warum?«
    Sie ließ den Sweater fallen und setzte sich wieder an die andere Seite des Tischs, trank einen Schluck Wein und schenkte ihm nach.
    »Ich bekam Lust dazu.«
    Ihre Stimme brach ein wenig. Sie benahm sich wie jemand mit schweren Verletzungen oder Missbildungen, der diese vorzeigte, um Kommentare oder Fragen zu provozieren. Aber jetzt brach ihre Stimme.
    »Ich bin noch nicht fertig.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich bin nicht fertig. Ich werde noch mehr machen lassen.«
    Anders suchte in ihrem veränderten Gesicht, in ihren Augen, nach Spuren von Wahnsinn, konnte aber keine entdecken. Er fand, dass sie etwas anderes als traurige Resignation ausstrahlen müssten. Zumindest eine Form von

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