Menschenhafen
den Kopf. »Nicht viel. Aber genug, um zu verstehen, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
Karl-Erik hatte sich erholt und begab sich zu seinem Platz zurück. Als er an Simon vorbeikam, spuckte er aus: »Und was gedenkst du dagegen zu tun?«
Simon zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, um zu verdeutlichen, dass er vorhatte zu bleiben. Er betrachtete die Gruppe, die sich eng um ein unsichtbares Zentrum schloss und keine Anstalten machte, ihn in ihren Kreis aufzunehmen. Anna-Greta sah nicht in seine Richtung, und das schmerzte ihn. Trotz seiner düsteren Ahnungen hatte er nicht glauben wollen, dass es so sein würde.
Wovor haben sie nur solche Angst?
Es konnte um nichts anderes gehen. So, wie sie zusammensaßen, bildeten sie eine kleine Sekte, die ängstlich ihr Geheimnis und ihren Glauben bewahrte und sich vor jedem Eindringling fürchtete. Völlig unverständlich erschien es Simon, dass Anna-Greta zu ihnen gehörte. Wenn er in seinem Leben einem Menschen begegnet war, der sich vor nichts zu fürchten schien, dann sie. Trotzdem saß sie nun hier, und ihre Augen standen nicht still, ihr Blick fiel auf alles und jeden, nur nicht auf ihn.
»Ich habe nicht vor, irgendetwas zu tun«, sagte Simon. »Was sollte ich schon tun können? Aber ich will Bescheid wissen.« Er erhob die Stimme. »Holger!«
Holger, der in Gedanken versunken war, zuckte zusammen und schaute auf. Simon fragte: »Was ist eigentlich mit Sigrid passiert?«
Möglicherweise hatte Holger zuvor kaum etwas von der gegen Simon gerichteten Aggression wahrgenommen, denn er antwortete gereizt und als wüsste Simon es bereits: »Darüber reden wir doch gerade.«
Simon wollte schon eine ironische Bemerkung darüber machen, dass er gedacht hatte, sie würden sich über das Missionshaus unterhalten, aber auf die Art konnten sie mit Angriffen und Rechtfertigungen weitermachen, bis sie alle der Teufel holte, weshalb er stattdessen die Arme vor der Brust verschränkte und unverblümt erklärte: »Ich werde nicht gehen. Ihr müsst euch entscheiden, wie ihr damit umgeht.«
Jetzt sah Anna-Greta ihn endlich an. Ihr Blick war direkt und ließ sich unmöglich deuten. Es war keine Liebe in ihm. So wenig wie Hass oder ein anderes Gefühl. Sie war eine Funktion, die eine andere Funktion betrachtete und zu beurteilen versuchte. Lange sah sie ihn so an, und Simon erwiderte ihren Blick auf die gleiche Art. Zwischen ihnen lag das Meer. Schließlich presste sie die Lippen zusammen, nickte kurz und sagte: »Könntest du bitte wenigstens für ein paar Minuten hinausgehen? Damit wir zu einer Entscheidung kommen können.«
»Worüber?«
»Über dich.«
Simon überdachte ihre Bitte und fand sie berechtigt. Mit übertriebener Sorgfalt zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und ging hinaus. Unmittelbar bevor die Eingangstür ins Schloss fiel, hörte er Karl-Erik sagen: »Diese verdammten Sommerurlauber, die glauben …«, dann schloss sich die Tür vor dem Ende seiner Bemerkung.
Simon entfernte sich ein paar Meter vom Missionshaus, blieb stehen und betrachtete den Herbst. Die Hagebuttensträucher an der Wand des Missionshauses waren mit Früchten überhäuft, lebendig rot wie Insekten. Die Blätter verfärbten sich gelb, und die rostfarbenen Ziegeldächer glänzten schwach von Feuchtigkeit. Im Straßenschotter funkelten vereinzelt Kieselstücke, sobald ein schräger Sonnenstrahl durch das Laub drang.
Der schönste Ort auf Erden.
Es war nicht das erste Mal, dass ihm der Gedanke kam. Vor allem im Herbst hatte Simon viele Male über die Schönheit Domarös und die Tatsache gestaunt, dass immer weniger Menschen auf der Insel lebten, dass nicht alle hier leben wollten.
Er ging ein Stück die Straße hinunter und vertiefte sich in weitere Wunder des Herbstes: das klare Wasser in den Vertiefungen der Felsen, nasse Nadelbaumstämme und von grüner Feuchtigkeit gesättigtes Moos. Der weiß lackierte Turm der Sturmglocke, der sich den Wolken entgegenstreckte. Er dachte nur an das, was er vor Augen hatte. Er wusste, dass er an anderes denken konnte, zum Beispiel an die Veränderung, die sich möglicherweise anbahnte, aber er weigerte sich. Vielleicht nahm er auf seine Art Abschied.
Etwa fünf Minuten war er so auf und ab geschlendert, als die Tür des Missionshauses geöffnet wurde. Anna-Greta trat heraus und winkte ihn zu sich. Er konnte ihr nicht ansehen, wie die Entscheidung ausgefallen war, und sie wandte sich um, ehe er sie erreicht hatte.
Als Simon in die Wärme
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