Menschenjagd
Sechs-Uhr-dreißig-Sendung im Games Building sein sollten. Das bedeutete Aufbruch, oder das Geld abzuschreiben.
Aber Bradley war auf der Flucht oder schon gefasst.
Und Elton Parrakis hatte ihm die Cleveland-Adresse nicht gegeben.
Und sein Knöchel war gebrochen.
Etwas Großes (ein Reh? Aber waren die im Osten nicht schon ausgerottet?) brach plötzlich rechts von ihm durch das Unterholz. Er zuckte vor Schreck zusammen. Die Isolationsstreifen glitten wie Schlangen von seinem Körper. Er versuchte sie wieder um sich festzuzurren und schnaufte unglücklich durch die verletzte Nase.
Da saß er also, ein Stadtbewohner auf einer verlassenen Baustelle, die von der Natur zurückerobert wurde, mitten im Nirgendwo. Plötzlich erschien ihm die Nacht selbst lebendig und böswillig, furchterregend, voller verrückter Geräusche.
Richards atmete durch den Mund ein und überdachte seine Möglichkeiten und deren Konsequenzen.
1. Nichts tun. Einfach sitzen bleiben und warten, bis die Lage sich wieder beruhigt hatte. Die Folge: Das Geld, das er sich Stunde um Stunde verdiente, würde ab heute Abend sechs Uhr nicht mehr ausgezahlt werden. Er würde umsonst sein Leben aufs Spiel setzen, und die Jagd auf ihn würde trotzdem weitergehen. Selbst wenn er die dreißig Tage schaffte, würde er dafür keinen Cent kriegen. Die Jagd würde weitergehen, bis er auf einer Bahre weggebracht wurde.
2. Die Kassetten nach Boston schicken. Es konnte Bradley oder seiner Familie nicht mehr schaden, denn sie waren ja schon aufgeflogen. Die Konsequenzen: (1) Die Bänder würden mit Sicherheit von den Jägern nach Harding weitergeschickt werden, die mittlerweile Bradleys Post überwachten. Aber sie würden ihn (2) auf diese Weise sofort in jeder Stadt aufstöbern, von der er sie ohne Zwischenadresse aufgab.
3. Die Bänder direkt an das Games Building in Harding schicken. Die Konsequenzen: Die Jagd würde weitergehen, aber er würde vermutlich an jedem Ort erkannt werden, der groß genug war, um einen Briefkasten zu besitzen.
Alles miese Aussichten.
Herzlichen Dank, Mrs. Parrakis. Vielen Dank.
Er stand auf, schüttelte die Isolation ab und warf den nutzlosen Kopfverband oben auf den Haufen. Nach kurzem Überlegen vergrub er ihn unter dem Isoliermaterial.
Er machte sich auf die Suche nach einer Stütze (wobei er sich wieder der Ironie, die Krücken im Wagen vergessen zu haben, bewusst wurde), und als er ein Brett fand, das ihm ungefähr bis unter die Achsel reichte, warf er es auf den oberen Rand des Kellerlochs und begann seinen mühsamen Aufstieg über die Anschlusseisen.
Als er endlich zitternd und schwitzend oben stand, merkte er, dass er seine Hände sehen konnte. Das erste schwache Morgengrau hatte begonnen, die Dunkelheit zu durchdringen. Er sah sich noch einmal sehnsüchtig auf dem Gelände um und dachte: Es wäre so ein gutes Versteck gewesen …
Aber nein. Schließlich war es kein Versteckspiel, sondern eine Jagd. War es nicht das, was die Einschaltquoten hochtrieb?
Ein wallender Bodennebel kroch sturzbachartig durch die kahlen Sträucher und Bäume. Richards blieb einen Moment stehen, um sich zu orientieren, und humpelte dann zum Waldrand, der nördlich an das verfallene Baugelände stieß.
Unterwegs hielt er noch einmal an, um seinen Mantel oben über seine Krücke zu schlagen, dann verschwand er im Gebüsch.
… Minus 046 Countdown läuft …
Schon seit zwei Stunden war es heller Tag, und Richards war beinahe überzeugt davon, dass er die ganze Zeit im Kreis herumgelaufen war, als plötzlich vor ihm das Heulen von Luftautos durch die Dornenranken des Unterholzes drang. Er schlich vorsichtig weiter, bis er, durch die Zweige spähend, eine zweispurige Schotterstraße entdeckte. Autos rauschten ziemlich regelmäßig in beide Richtungen vorbei. Ungefähr eine halbe Meile die Straße hinauf sah er eine Gruppe von Häusern, die entweder zu einer Lufttankstelle oder zu einem alten Kolonialwarenladen gehörte, vor dem Zapfsäulen standen.
Er humpelte weiter, parallel zur Straße, und ab und zu stolperte er und fiel hin. Sein Gesicht und seine Hände waren von den dornigen Brombeerranken völlig zerkratzt, und seine Kleidung war über und über mit Kletten bedeckt. Er hatte es nach einer Weile aufgegeben, sie immer wieder abzuklauben. Kleine Bällchen von Wollgras flogen um seine Schultern; er sah aus, als hätte er an einer Kissenschlacht teilgenommen. Er war von Kopf bis Fuß durchnässt; zweimal war es ihm gelungen, einen Bach zu
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