Menschenkinder
Alltag. Das klingt nach Thermik, Luftwirbeln und ausgespannten Flügeln. Und genau das ist gemeint.
Die Kompetenzkette
Der Weg ins Familienleben führt über Sturzbäche von Hormonen, Schlaflosigkeit, Berge von Wäsche und Berge von Zweifeln – die erste Zeit mit einem Baby ist die anstrengendste Zeit, mit der das Leben aufwarten kann. Dass wir nicht untergehen, liegt an einem von der Natur vorgesehenen Gegenprogramm, das Kräfte mobilisiert – einem Engelskreis der kleinen Schritte. In einem sich selbst verstärkenden Prozess gibt nämlich jeder gelungene Schritt Kraft und Sicherheit. Das lässt den nächsten Schritt leichter werden. Eine gute Geburt gibt Selbstvertrauen. Das wiederum erleichtert die Kommunikation mit dem kleinen Wesen – das scheue intuitive Elternprogramm erwacht zum Leben. Mit der so gewonnenen Feinfühligkeit kann die Mutter ihr Kind besser beruhigen – wieder ein Erfolgserlebnis und wieder ein bisschen weniger Stress im Familienkessel. In diesem Aufwind klappt auch das Stillen
besser, der Austausch in Nähe und Gelassenheit – eine weitere Stärkung für den Weg. Und so kann es weitergehen, trotz Schlaflosigkeit, Wäschebergen und Co. …
Besonders zwei Glieder dieser Lern – und Erfahrungskette sind bemerkenswert, nämlich das emotionale Glied und das soziale Glied.
Auf der emotionalen Seite wird immer deutlicher, welche wichtige Rolle allein schon die körperliche Nähe zum Kind spielen kann. Experimente zeigen, dass durch Hautkontakt sowohl beim Baby als auch bei der Mutter stressabbauende Hormone ausgeschüttet werden. Das machen sich zum Beispiel Hebammen und Stillberaterinnen zunutze – klappt das Stillen nicht, so wirkt ein einfaches Rezept oft Wunder: alle Beteiligten bis auf die Haut ausziehen. Selbst das Lernen scheint durch die unmittelbare Nähe leichter zu fallen. Neugeborene etwa prägen sich Gerüche besser ein, wenn sie nackt bei der Mutter liegen als wenn sie bekleidet sind. Untersuchungen zeigen zudem, dass die Feinfühligkeit der Mutter gegenüber dem Kind allein schon dadurch zunimmt, dass sie ihr Kind häufiger am Körper trägt.
Und das soziale Glied? In praktisch allen ursprünglichen Kulturen wächst die Frau durch die Geburt stärker in den »Stamm« hinein, ihre Rolle wird gestärkt, sie erfährt Wertschätzung und Unterstützung – sozialer Rückenwind mitten aus der Gesellschaft. Und was für ein Aufwand da betrieben wird! Rituale, bestes Essen, Gebete und vor allem viele, viele helfende Hände. Wer hierzulande mit schlechtem Gewissen eine Haushaltshilfe für die ersten paar Tage nach der Geburt beantragt, sollte einmal die Berichte des Ethnologen Wulf Schiefenhövel lesen, wie reich und behütet das Wochenbett bei den Trobriand-Inselbewohnern in Neuguinea aussieht. Auch heute noch braucht eine neue Mutter ihren »Stamm«. Soll sie ein Kind wirklich tragen können, braucht sie selbst ein tragendes Netz. Heute hat sich der Stamm jedoch vom Acker gemacht, er überweist jetzt zwar ein Elterngeld, aber die Hilfe, die eine junge Mutter spürt , die ist auch heute noch ganz konkret. Und gerade daran hapert es.
Die Tragödie ist damit vorprogrammiert: Eine zur Aufzucht ihres Nachwuchses so dringend wie keine andere Art auf Helfer angewiesene Spezies hat ihre sozialen Netze und Bindungen radikal beschnitten und macht stattdessen auf Individualismus. Das kann nicht gut gehen. Nichts führt da an einer Rückbesinnung auf ein artgerechtes Leben vorbei: Wer Kinder haben will, braucht Helfer. Am Lebensanfang gilt das noch radikaler als zu jeder anderen Zeit.
Bruchgefahr
Die Glieder der elterlichen Kompetenzkette stehen heute schwer unter Zug. Ja, manchmal zerbricht die sichernde Kette bereits am Anfang – aus den eigentlich vorgesehenen Engelkreisen werden dann Teufelskreise.
Das beginnt schon mit der Geburt – da kommt aus dem Kreißsaal oft nur Gegenwind. Immer mehr Mütter verlassen das Krankenhaus in dem Glauben, sie verdankten die Geburt ihres Kindes einem Wehentropf, einem Dammschnitt, dem medizinischen Personal ... Aber nicht sich selbst. Der Start in den neuen Lebensabschnitt findet in einer fremden Umgebung unter »wissenden« Fremden statt. In vielen Krankenhäusern darf die Mutter ihr Baby nicht einmal auf dem Arm tragen, sondern muss es in einem Plastikcontainer durch die Gänge schieben. 200.000 Jahre, nachdem die ersten Homo-sapiens-Frauen ihre Kinder durch die afrikanische Savanne trugen, traut man ihr offensichtlich nicht einmal zu, dass sie
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